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bevölkert hatte, im Besitz von nur sechs senatori-
schen Familien! Nero ließ, wie Plinius (Hist.
nat. 1 18, c. 7) erzählt, die Häupter derselben
hinrichten! Um dem entvölkerten Land wieder Be-
bauer zuzuführen, verordnete ein Senatuskonsult,
daß die Kapitalisten mindestens zwei Dritteile
ihres Vermögens in Grundeigentum besitzen muß-
ten. Ebenso befahl Antoninus den Senatoren,
ein Vierteil ihres Vermögens in italischem Besitz
anzulegen (Suetonius 48 49 und Tacitus,
Ann. VI 17, 2). Aber alle diese Gewaltmaß-
regeln vermochten den Untergang des Staats nicht
aufzuhalten. Latifundia perdiderunt Italiam,
immo et provincias! so lautete der Schmerzens-
ruf des Plinius.
III. Die deutsche Agrarverfassung. Die
ursprüngliche Agrarverfassung der germanischen
Völker beruhte einerseits auf der persönlichen Frei-
heit und gleichen Rechtsgemeinschaft, anderseits
auf dem vollen, echten Eigentum der freien Ge-
nossen des Gemeinde= und des Staatsverbandes.
Tacitus schildert sie uns wie folgt: „Die Feld-
markung, je nach Anzahl der Bebauer größer oder
kleiner, gehört der ganzen Gemeinde als Gesamt-
besitz, und diese verteilt die Grundstücke unter
ihre Mitglieder nach Maßgabe des Ranges. Die
Möglichkeit dieses Verfahrens liegt in der großen
Ausdehnung der Markungen. In der Bebauung
wechselt man alljährlich das Feld, wobei immer
noch ein Teil desselben frei bleibt“ (Germ.c. 26).
Vorher stellt er den Unterschied der Sklaven und
Freigelassenen gegenüber denen des römischen
Reiches dar: „Die Stellung der Sklaven ist eine
andere als bei uns, wo die einzelnen Geschäfte
unter das Gesinde förmlich verteilt sind. Dort
sitzt jeder auf seinem besondern Heimwesen, am
eigenen Herd. Der Herr legt ihm nur, wie in
unserem Pachtverhältnis, eine bestimmte Leistung
an Getreide, Vieh oder Gewand auf, und darauf
beschränkt sich die Pflicht des Hörigen. Der
Freigelassene steht nicht viel höher als der Sklave;
selten übt er einigen Einfluß im Hause, niemals
im öffentlichen Leben. Einzige Ausnahme bilden
die monarchisch regierten Staaten, wo der Frei-
gelassene über den Freigebornen und sogar über
den Adligen sich erheben kann. Bei den andern
Stämmen gibt die untergeordnete Stellung des
Freigelassenen Zeugnis von der freien Volksver-
fassung“ (ebd. c. 25). Die eigentlichen Ackerhöfe
waren solchergestalt im Besitz der freien und wehr-
haften Männer, denen die Heerbannspflicht und
die Vertretung der Hintersassen in der Volks-
gemeinde oblag. So fand Karl d. Gr. die Agrar-
verfassung im Sachsenland vor. Nach der rein
landwirtschaftlichen Seite hin war sie (wie das
die Worte in jener ersten Stelle: arva per annos
mutant, et ager superest, schon andeuten) vor-
wiegend eine Dreifelderwirtschaft. Diese erhob
der große Eroberer und Staatsmann, für seine
Verwalter wenigstens, förmlich zum Gesetz, um
Einheit in den Betrieb und die Verwaltung des
Agrargesetzgebung, Agrarpolitik.
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(vorherrschenden) Großgrundbesitzes zu bringen,
ganz insbesondere, um durch eine allgemeine
Brachweise auch den einzelnen Hofbesitzern Vor-
teile zu sichern; die Umwandlung der Allodial-
und Domanialgüter in kleinere freie Familien-
güter gestatteten die staatsrechtlichen Verhältnisse
eben nicht. Aus der von Tacitus weiter be-
schriebenen Gefolgschaft, comitatus (ebd. c. 13),
entwickelte sich dann, gesetzlich zuerst durch eine
Regierungsmaßregel Karl Martells, dann durch
die zunächst gegen die Mißbräuche und Willkür
der Beamten und Großen gegenüber den kleinen
Schutz= und Diensthörigen gerichteten Kapitularien
Karls d. Gr. von 807 und 811, der Feudalis-
mus oder das Lehnswesen, welches schließlich die
gesamte Nation aus einer Masse von Volksge-
meinden in eine solche von Lehns= und Dienst-
gefolgen verwandelte. Lehns= und Dienstrechte
traten an die Stelle der alten bisherigen Volks-
rechte. Der Reiterdienst zumal, der dem kleinen
Freien zu leisten schwer fiel, zwang ihn, denselben
mit andern persönlichen Diensten, Abgaben und
Lasten von den für die unmittelbare Heeresfolge
besser befähigten größeren Grundherren loszu-
kaufen. Die von den Grafen und Beamten zu-
nächst auf die Besitzer der großen Herrschaften
verteilten öffentlichen Dienste und Abgaben, im
Kriegs= wie auch im Gemeindedienst, wälzten
diese wiederum nach und nach auf die kleineren
Besitzer, die dadurch in das Verhältnis von Hinter-
sassen gedrängt wurden. So entstand eine neue
persönliche und zugleich eine dingliche Unfreiheit,
indem sich der Charakter jener Leistungen als
öffentlicher gar bald verwischte. Nach eingeführter
Erblichkeit der Lehen und mit der Ausdehnung
des Besitzes zur toten Hand, der Kirche und kirch-
lichen Korporationen, erwuchsen nun wieder,
hauptsächlich durch kaiserliche Privilegien, be-
sondere Ausnahmerechte, Immunitäten, Frei-
heiten von Lasten, Diensten und Abgaben und
Exemtionen von der königlichen Vogtei und Ge-
richtsbarkeit; es entstanden neben Eigengerichten
über Leibeigene und Hörige, teils durch Belehnung
teils durch anderweitige Rechtstitel, die Patri-
monialgerichte für Freisassen und andere freie
Leute. Aus dieser Patrimonialgerichtsbarkeit ent-
wickelte sich dann naturgemäß die gutsherrliche
Polizei mit dem Gutsuntertänigkeitsverband der
Bauern und Hintersassen. Die Sklaverei war
mit der durch Karl d. Gr. zum Sieg geführten
Herrschaft des Christentums untergegangen. Sie
hatte ihren nächsten Ursprung in der Kriegs-
gefangenschaft genommen, und die Kirche verbot
den Verkauf in die Sklaverei, trat ihm wenigstens,
wo sie Macht dazu hatte, scharf entgegen; aber
die neben der Sklaverei entstandene Leibeigen-
schaft, als mehr aus einem freiwilligen Verhältnis
hervorgewachsen, erhielt sich und verschmolz dann
mit der Gutsuntertänigkeit, die sich nun zu einem
sehr ausgedehnten System von Beschränkungen,
Dienstpflichten und Abgaben der bäuerlichen