1483
lichen Leben sind nun einmal sog. flaue Perioden,
ja scharfe Krisen nicht ganz hintanzuhalten. Es
wird immer Zeiten des Ubergangs geben, wo etwa
eine in einem Industriezweig überschüssig gewor-
dene und darum freigesetzte Arbeiterschicht ge-
zwungen ist, sich allmählich ganz neuen Verhält-
nissen des Erwerbs und der Lebensgestaltung an-
zupassen. Ebenso werden auch große Katastrophen
elementarer Natur immer wiederkehren, die viel-
leicht den ohnehin besitzlosen oder wenig begüterten
Teil am schwersten heimsuchen. Hier ist der Ge-
nerosität, deren Glanz schon dem Heiden Aristo-
teles imponierte, die aber noch in ganz anderem
Licht dem christlichen Gemüt sich zeigt, ein Feld
eröffnet, auf dem sie sich extensiv wie intensiv
segenspendend erweisen kann.
Das Bewußtsein dieser Pflichten ist auch den
begüterten und gebildeten Klassen niemals völlig
entschwunden, nur sind oft die Motive der Er-
füllung dieser Pflicht nicht die reinsten: oft ist es
Furcht vor dem Ausbruch des Grolls, der sich in
den Tiefen der Bevölkerung ansammelt, und dann
greifen die Besitzenden auch häufig in der Wahl
der Mittel in bedenklicher Weise fehl. Armen-
bälle und Wohltätigkeitskonzerte sind oft nicht die
geeigneten Mittel, um bei großen Katastrophen
den Armen und Bedrängten, wenn man sie nicht
etwa mit einer materiellen Unterstützung einfach
abfertigen will, das Bewußtsein einzuflößen, daß
der Reiche auch noch ein Mitgefühl für seine Not
empfindet und nicht bloß mit einem Entreegeld
sich seiner Verpflichtungen mehr zu entschlagen als
ihnen gerecht zu werden sucht. Es liegt etwas
innerlich Widerspruchsvolles und Un-
gereimtes darin, daß das Unglück, das einen
Teil der Gesellschaft betroffen hat, für den andern
die Gelegenheit abgeben muß, sich zu vergnügen.
Freilich sind — und das kann als ein gesellschaft-
liches Symptom nicht genug beklagt werden —
solche Veranstaltungen oft der einzig anwendbare
Kunstgriff, um, wenn auch nicht das Herz, so
doch — die Kasse manch eines Reichen zu öffnen.
Aber immer bleibt der unheilvolle, sozial vergif-
tende Einfluß bestehen, welchen diese moderne
Art, „Gutes zu tun“, ausübt. Paulsen rügt mit
gutem Grund an diesem „Wohltätigkeitssport"“,
daß Unglück, Not und Elend zum Vorwand ge-
nommen wird, um Vergnügungen aller Art zu ver-
anstalten: Konzerte, Theateraufführungen, Bälle,
Bazare, „bei denen vornehme und schöne Damen
mit reichen und vornehmen Herren handeln, spie-
len, tändeln, alles, um der Armut zu helfen; es
wird wohltätig geraucht, gefrühstückt, gespielt, ge-
tanzt, es werden neumodische Bettelorden gegrün-
det, mit Obern, Orden und Auszeichnungen, alles,
um der Armut zu helfen, wobei denn zugleich für
das eigene gute Herz und ein weniges, wie billig,
auch für die Sinne abfällt nach dem Rezept aus
dem zweiten Teil des Faust: Hoch ist der Doppel-
gewinn zu schätzen, barmherzig sein und sich zu-
gleich ergetzen“.
Eigentum.
1484
Dem genannten Philosophen erscheint diese Ver-
bindung von Amüsement und „Wohltätigkeit“ als
ein überaus betrübendes Zeichen der Zeit; das
Spiel mit der Not zeige, bis zu welchem Grad in
gewissen Gesellschaftskreisen die Unempfindlichkeit
gegen den Ernst und die Not des Lebens gestiegen
sei. Zur Entschuldigung mag dienen, daß die
Großstadt die persönlichen Beziehungen zwischen
reich und arm zerreißt; nun möchte man doch, zur
Beschwichtigung des Gewissens, etwas für Not-
leidende tun, und so hilft man sich in dieser Weise
(Paulsen a. a. O. II 172#).
UÜbrigens sind auch durch die christliche Auf-
fassung des Eigentumsrechts nicht alle Aufwen-
dungen untersagt, welche das Maß der physisch
notwendigen Bedürfnisse übersteigen. Die christ-
liche Moral kennt vielmehr einen vollberechtigten
edlen Luxus, der nicht der Befriedigung persön-
licher Genuß= und Prunksucht, sondern der För-
derung großer sozialer Interessen, der Kunst usw.
und damit auch der Gesamtheit dient (s. d. Art.
Luxus).
Die soziale Seite am Eigentum tritt am stärk-
sten zutage in den Fällen „äußerster Not“. Wer
sich in solcher Lage befindet, ist befugt, sich das zur
Abwendung der Gefahr Nötige aus fremdem Eigen-
tum anzueignen, selbst gegen den Willen des Eigen-
tümers. Das formelle, fremde „Recht“ des Besitzes
würde gegenüber dem höheren Recht auf das Leben
materiell zum Unrecht. Hier tritt die ursprüngliche
Gemeinsamkeit der Güter im Sinn der ihnen von
Anfang an gegebenen Bestimmung, der wirtschaft-
lichen Notdurft aller Menschen zu dienen, in voller
Reinheit hervor. Es ist deswegen auch allgemein
anerkannt, daß in der äußersten Not dem Recht
des in solcher Drangsal Befindlichen gegenüber
jedes andere Recht zessiert, außer der Eigentümer
befände sich in gleicher Notlage. Das Recht auf
Existenz ist wichtiger und dringlicher als der in
solchem Fall bloß äußerliche und inhaltsleere
Rechtstitel des Eigentümers. Der Grund ist nicht
allzu schwer zu erkennen. Er liegt in folgendem:
„Das Recht des Menschen auf sein Leben, und
folglich auf alles, was zur Erhaltung desselben
streng notwendig, ist ein unmittelbar natürliches,
von Gott verliehenes Recht. Das Eigentumsrecht
von bestimmten konkreten Dingen aber ist un-
mittelbar menschliches Recht. Nun aber kann das
menschliche positive Recht dem natürlichen und
göttlichen keinen Eintrag tun. Also kann niemand
ein solches Eigentum an einer Sache erwerben,
daß er befugt wäre, andere auch im Fall der
äußersten Not vom Gebrauch derselben auszu-
schließen"“ (Cathrein). Diese Lehre der Theologen
hat so wenig Bedenkliches, daß auch viele staat-
liche Gesetzgebungen in ähnlicher Weise das Grund-
recht auf Existenz anerkennen. — Im übrigen ist
die Verpflichtung zum Almosengeben keine Rechts-,
sondern eine Liebespflicht, und auch dies nur dann,
wenn wirkliche Not vorliegt und der eigene standes-
gemäße Unterhalt des Gebers und seiner Familie