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eigentum anhaftenden Auswüchse, die es zum
„Kapitalismus machen — Auswüchse, die kaum
ein Vernünftiger mehr bestreitet —, hat der Staat
nach Möglichkeit zu beseitigen. Das Eigentum
muß nicht naturnotwendig in der Gestalt des, um
mit Marx zu sprechen, „aus allen Poren schmutz-
und bluttriefenden“ Kapitals auftreten, das beim
„freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte“ den
Arbeiter zur unpersönlichen Ware degradiert und
das seine Wert= bzw. Mehrwertbildung der Aus-
beutung der menschlichen Arbeitskraft verdankt.
An Aufgaben für die unmittelbar im
Weg der Gesetzgebung erfolgende Einwirkung des
Staats auf die Eigentumsordnung ist kein Mangel.
Wenn öffentliche Unternehmungen, die im Inter-
esse aller liegen, zu ihrer Durchführung es er-
fordern, daß jemand sein Eigentum, etwa einen
Bodenkomplex zum Bau einer Eisenbahn, abtrete,
so kann der Staat die Enteignung, natürlich
gegen volle Entschädigung, vollziehen. Weit wich-
tiger aber ist es, daß der Staat für eine sozial
gesunde, d. h. dem Mittelstandsideal sich an-
nähernde Eigentumsverteilung sorge. Außer dem
auch auf städtische Baustellen auszudehnenden
Enteignungsrecht verdient der Ausbau eines eige-
nen Agrarrechts Erwähnung, da Natur und Zweck
der Immobilien andere sind als jene des beweg-
lichen Kapitals und diese verschiedene wirtschaft-
liche Natur auch ein anderes Erbrecht (s. d. Art.
Anerbe) und eine andere Eigentumsordnung be-
dingt. Weitere Eigentumsgesetze betreffen das in
früheren Zeiten so streng überwachte Leiheigentum
(s. d. Art. Wucher), die Erbrechtsordnung, die Ver-
hütung des bloß spekulativen Grundbesitzwechsels,
den Baustellenwucher, den Wertzuwachs u. dgl.
Besonders dürfte aber auch die Lohnfrage ein
Gebiet darstellen, auf welchem der Staat in der
Richtung der Eigentumsverteilung wirken könnte.
— Weiter kann es Fälle geben, wo die augenblick-
liche Nutzenziehung dem volkswirtschaftlichen Be-
trieb widerspricht (Raubbau); daher ist für Wald-
boden öffentliches Eigentum vorzuziehen, und auch
für Bergwerke wird von manchen Kathedersozialisten
Staatsbetrieb verlangt, weil die Kohle die Speise
des wirtschaftlichen Prozesses ist und durch die oft
gewaltigen Streiks der Kohlenarbeiter, wie sie die
Neuzeit gesehen, nicht bloß die Industrie schwer
geschädigt wird, sondern auch noch weite, an sich
an dem Krieg zwischen Kapital und Arbeit ganz
unbeteiligte Kreise in Mitleidenschaft gezogen
werden.
Was gewisse Spekulationsgewinne, besonders
die durch das Differenzspiel an der Börse errafften,
anlangt, so hat die Obrigkeit gerade im Interesse
der Heiligkeit des Eigentums nach Kräften jedem
irgendwie anrüchigen Eigentumserwerb zu steuern.
Dem Volk darf sich nicht der Gedanke aufdrängen:
Die kleinen Diebe hängt man, die großen läßt man
laufen. Es ist durchaus am Platz, wenn die Ge-
setzgebung nicht nur die kleinen, alltäglichen Eigen-
tumsverletzungen ins Auge faßt, sondern sich auch
Eigentum.
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den großen Eigentümern gegenüber volle Unab-
hängigkeit bewahrt und sich nicht mit den all-
gemein strafrechtlichen Schranken begnügt.
Außer dem direkten Eingreifen in die Eigen-
tumsordnung gibt es noch viele Wege der mittel-
baren Einflußnahme seitens der Staatsgewalt.
Einmal kann sie durch das Steuerwesen die
Verteilung der öffentlichen Lasten zugunsten der
schwächeren Schultern rehulieren. Ferner kann
der Staat, insofern er selbst Eigentümer ist, auf
seinen Domänen den Privateigentümern ein
Muster abgeben. Im Wesen des ausschließlich
privatwirtschaftlichen Systems liegt es, immer
mehr auf Herabsetzung des Arbeitslohns hinzu-
arbeiten; daher ist es von großer Bedeutung, daß
auch Wirtschaften existieren, deren Bestreben darauf
gerichtet ist, dieser Tendenz entgegenzuwirken und
in dieser Richtung einen Druck auf die Unter-
nehmer auszuüben. Und insofern kann man sagen,
daß Produktiveigentum in den Händen des Staats
nicht nur Produktivmittel zur Erzielung wirt-
schaftlicher Erträgnisse, sondern auch in gewissem
Sinn Faktor der Eigentums= und Einkommens-
verteilung wird. Die mittelbare Einwirkung auf
die Eigentumsverhältnisse geht aber noch weiter.
Die ganze Arbeiterschutzgesetzgebung, die Be-
schränkung der Freiheit des Arbeitsvertrags, die
Frauen= und Kinderarbeit, die sanitären Anfor-
derungen an die Arbeitsräume, die Anordnung
von Ruhepausen und Durchführung der Sonn-
tagsfeier verhindern gewissenlose Eigentümer, ihre
ökonomische Uberlegenheit zu mißbrauchen. Dies
sind keine unbefugten Eingriffe in die Heiligkeit
des Privateigentums; denn der Eigentümer ist ein
Glied der staatlichen Gesellschaft und
das Eigentum eine soziale Institution in-
sofern, als es nicht bloß dem Wohl des einzelnen
und der Familie dienen, sondern seine segens-
reichen Wirkungen über die Gesamtheit erstrecken
soll. Eigentum gibt Macht, und daß diese Macht
nicht zum Schaden der Gesamtheit mißbraucht
werde, dafür zu sorgen ist Aufgabe der Staats-
gewalt.
Literatur. Proudhon, Qu'est-ee que la pro-
priété (Besanc. 1840, deutsch 1844); V. Mayer,
Das E. nach den versch. Weltanschauungen (1871);
Laoveleye, De la propriété et des formes primitives
(Par. 51901, deutsch 1879); Samter, Gesellschaft-
liches u. Privateigentum (1877); Ad. Wagner,
Lehrbuch der polit. Okonomie. I. Grundlegung
(81892); Felix, Der Einfluß der Natur auf die
Entwicklung des E.3 (1883); ders., Der Einfluß der
Sitten u. Gebräuche auf die Entwicklung des E.s
(1886); ders., Der Einfluß der Religion auf die
Entwicklung des E.s (1889); ders., Der Einfluß
von Staat u. Recht auf die Entwicklung des E.s
(3 Bde, 1896/1903); G. Adler, Gesch. des Sozialis-
mus u. Kommunismus von Plato bis zur Gegenwart
1 (1899); Maurenbrecher, Thomas von Aquinos
Stellung zum Wirtschaftsleben seiner Zeit (1898);
Hitze, Kapital u. Arbeit (1881); v. Hertling, Of-
fener Brief zur Beantwortung der Göttinger Ju-
biläumsrede (1887); ders., Naturrecht u. Sozial-