Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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3. Progression. Wenn man die Geschichte 
der Eink steuergesetzgebung der einzelnen 
Staaten durchgeht, so findet man überall, daß, 
wenn nicht von Anfang an, so doch im Lauf der 
Entwicklung die geringeren Einkommen ent- 
weder ganz frei gelassen oder doch mit einem nie- 
drigeren Prozentsatz zur Steuer herangezogen 
werden als die höheren. Diese Rücksichtnahme ge- 
schieht aus ganz verschiedenen Gesichtspunkten. 
Eine lediglich praktische Erwägung für die Frei- 
lassung der geringen Einkommen ist die, daß die 
Kosten der Einschätzung und Erhebung durch die 
Einnahmen aus solchen Steuern nicht gedeckt 
werden. Die Statistik der Steuern weist nach, in 
welch großem Umfang kostenpflichtige zwangsweise 
Einziehung direkter Personalsteuern sich überall 
da herausstellt, wo bis zu kleinen Einkommen- 
steuerbeträgen hinab die Umlegung dieser Steuer 
erfolgt. Eine andere, schon von höheren Gesichts- 
punkten ausgehende Erwägung ist die, daß dasselbe 
Verhältnis der Steuer zum Einkommen, auf ge- 
ringere Beträge angewandt, viel härter drückt als 
auf höhere (Gesichtspunkt des Grenznutzens, Gesetz 
des abnehmenden Reizes). Wer 600 M Ein- 
kommen hat, entbehrt bei 8% Steuer die zu 
zahlenden 18 M viel schwerer als derjenige, welcher 
bei 60 O0O0 M Einkommen 1800 M Steuer zu 
zahlen hätte. Die 600 KM sind nur imstande, des 
Lebens Notdurft zu bestreiten; jede Mark fällt 
dabei ins Gewicht. Die 60 000 Mggestatten neben 
sorglosem, behaglichem Leben noch einen gewissen 
Luxus, und die 1800 M Steuern beschränken 
höchstens den letzteren. Ganz besonders fallen die 
Erwägungen über die Berücksichtigung der kleineren 
Einkommen dort ins Gewicht, wo in dem Steuer- 
system die sog. indirekten Steuern, namentlich 
Steuern und auch Zölle auf notwendige Lebens- 
bedürfnisse, eingeführt sind. Die geringen Ein- 
kommen sind durch indirekte Steuern durchschnitt- 
lich verhältnismäßig stärker getroffen als die 
höheren, und es ergibt sich daraus das Bestreben, 
nach Möglichkeit einen Ausgleich auf dem Weg 
der Einkommenbesteuerung herbeizuführen. 
Die Theorie gelangte hie und da zu dem Ver- 
langen, unter Anerkennung eines Existenz- 
minimums dieses von der Steuer gänzlich frei- 
zulassen. Soll damit gemeint sein, daß die Gesetz- 
gebung eines Staates eine bestimmte Höhe des 
Einkommens als das mindeste hinstellen möge, was 
zum Lebensunterhalt nötig ist, und davon aus- 
gehend die Freilassung dieses Betrags von Steuern 
auszusprechen habe, so würde dies im wirklichen 
Leben zu der größten Ungleichmäßigkeit unter den 
von der Befreiung Betroffenen führen müssen. Ge- 
rade wenn man feststellen will, wieviel zu einem an- 
gemessenen Lebensunterhalt unbedingt notwendig 
ist, fallen alle lokalen Verhältnisse, Unterschied von 
Stadt und Land, verschiedene Höhe des Bedürf- 
nisses je nach der Größe der Familien usw., viel 
schwerer ins Gewicht bei kleineren als bei größeren 
Einkommen. Eine strikte Anwendung der Theo- 
  
Einkommensteuer. 
  
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rie des Existenzminimums erscheint daher untun- 
lich. Man wird aber aus allen bisher angeführten 
Gesichtspunkten dazu gelangen, mit der Besteue- 
rung des Einkommens nicht da zu beginnen, wo 
man dem Begriff nach überhaupt schon von Ein- 
kommen sprechen kann, sondern mit Berücksichtigung 
der Verhältnisse des Landes und der Bevölkerung 
erst bei einem einigermaßen erheblichen Einkommen. 
Und auch dann wird man billige Rücksicht nehmen 
bei der Bemessung desjenigen Teiles vom Ein- 
kommen, welchen man als Steuerbetrag in An- 
spruch nimmt. 
Dierechnungsmäßige Durchführung des Grund- 
satzes der Gleichmäßigkeit der Einkommen- 
steuer würde dazu führen, daß bestimmt wird, 
welcher Prozentsatz des steuerpflichtigen Ein- 
kommens als Einkommensteuer zu entrichten ist, 
von der unteren Grenze beginnend bis zu den 
höchsten Einkommen. Die große Ungleichheit, 
welche hierin liegen kann und vielfach sich auch tat- 
sächlich ergibt, hat dazu geführt, den Grundsatz 
der progressiven, der fortschreitenden Besteue- 
rung aufzustellen. Während bei dem gleichmäßigen 
Prozentsatz mit dem höheren Einkommen auch der 
Steuerbetrag wächst, z. B. von 1000 KM bei 2% 
20 M, von 100 000 M2000 J betragen würde, so 
soll bei der fortschreitenden Veranlagung mit dem 
höheren Einkommen auch der Prozentsatz wachsen, 
z. B. bei 1000 M 2 % bei 100 000 M bereits 
4% , also die Steuer nicht 20 und 2000, sondern 
20 und 4000 AM usw. betragen, ohne Beschränkung 
nach einer fortschreitenden Erhöhung des Prozent- 
satzes, nicht nur absolut, sondern auch relativ. Wir 
finden das Billigkeitsbestreben der Progression 
mehrfach angewandt in Form der Degression, 
so daß das höchste Belastungsverhältnis festgesetzt 
und bestimmt wird, bis zu welchem Einkommen 
abwärts dasselbe beibehalten werden soll, während 
dann für die niedrigeren Einkommen in absteigen- 
der Art das Verhältnis bestimmt wird. Man kann 
dies auch so bezeichnen, daß die Progression, von 
unten beginnend, bei einer gewissen Höhe des Ein- 
kommens abschließt und dann ein fester Prozent- 
satz für alle höheren Einkommen in Anwendung 
gebracht wird. Die Wirkung der Progression in 
diesem Sinn kann auf verschiedenem Weg erzielt 
werden: zunächst durch Steigerung des Prozent- 
satzes, wobei es dann wiederum darauf ankommt, 
ob dieser Berechnung das ermittelte Einkommen 
in seinem genauen Betrag zugrunde gelegt wird, 
oder ob man die Einkommen zuvor in Klassen oder 
Stufen einteilt und die Steigerung stufenweise 
stattfinden läßt. Oder aber man zieht bei ge- 
ringeren Einkommen einen kleineren Teil zur 
Steuerberechnung heran als bei größeren, wendet 
dann aber auf alle den gleichen Prozentsatz an. 
Wird z. B. bei 500 M Einkommen nur der Be- 
trag von 100 M herangezogen, bei 30 000 M 
das ganze Einkommen und dann 1% Steuer er- 
hoben, so ist klar, daß der Steuerpflichtige mit 
500 M Einkommen nur ½ % bezahlt, während
	        
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