Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Die Bedeutung der Eisenbahnen besteht 
darin, daß sie durch schnelle und billige Beför- 
derung von Gütern und Personen die natürlichen 
Entfernungen wirtschaftlich beseitigen. Die Schnel- 
ligkeit, mit der sie ihre Arbeit vollführen, ist bei 
Unterstellung einer Grundgeschwindigkeit von 
75 km in der Stunde 7 bis Zmal so groß wie die 
der alten Posten, und was die Billigkeit ihrer Be- 
förderung anlangt, so sei darauf hingewiesen, daß 
z. B. Kohlen, deren Transport in den 1830er Jah- 
ren 30—40 Pfennig pro Tonnenkilometer (tkm) 
kostete, heutzutage durch die Eisenbahnen bei uns 
für 2,6 bis 2,2 (nach Ausnahmetarif bis zu 1,25 
Pfennig) und in Nordamerika sogar für 1 Pfennig 
und noch billiger pro tkm befördert werden. 
Die durch die Eisenbahnen einem Land gewährte 
Transportkostenersparnis bedeutet eine entspre- 
chende Vermehrung des Nationalvermögens. In 
überzeugender Weise ist dies in Bezug auf Frank- 
reich im Jahr 1865 von Perdonnet im Traité 
Glémentaire des chemins de fer (I#, Einl. VI 
bis XxIM) nachgewiesen worden. Damals waren 
in Frankreich ungefähr 4 Milliarden Francs in 
Eisenbahnen angelegt. Perdonnet zeigt nun, daß 
durch die Eisenbahnen jährlich 500 Millionen 
Francs an Fracht erspart würden, was einem 
Kapital von 10 Milliarden Francs entspricht. 
Das Erwerbsleben wird durch die Eisenbahnen 
wie durch keine andere wirtschaftliche Einrichtung 
gefördert. Dies wird heute überall eingesehen und 
gewürdigt, daher die unausgesetzten Bemühungen 
der Landstriche, die noch keine Bahnen haben, end- 
lich in den Besitz solcher zu gelangen; daher die 
Erscheinung, daß ein Abgeordneter durchweg bei 
seinen Wählern um so beliebter ist, je mehr es ihm 
gelingt, bei der Regierung die Berücksichtigung 
der Bahnwünsche seines Wahlkreises durchzusetzen. 
Der Segen einer Bahn tritt schon bei ihrer An- 
lage, dem Grunderwerb und dem Bau, zutage. 
Ist sie aber einmal dem Betrieb übergeben, so 
bringt sie erst recht wirtschaftliches Leben in eine 
Gegend. Die wichtigste Wirkung der Eisenbahnen 
besteht aber darin, daß sie wegen der Billigkeit 
ihrer Beförderung eine ganze Reihe von Gütern, 
die sog. Massengüter, wie Holz, Getreide, Kohlen, 
Erze, Steine — falls solchen nicht zufällig die 
Möglichkeit der Beförderung auf einer Wasser- 
straße geboten ist —, erst transportwürdig machen, 
und daß sie die Verschiedenheit der Warenpreise 
in den verschiedenen Gegenden und Ländern immer 
mehr ausgleichen und die Bildung von „Welt- 
warenpreisen“ befördern. Diese Wirkung der 
Eisenbahnen kommt in hohem Grad den mit ge- 
ringen Kosten Landwirtschaft und Industrie be- 
treibenden Gegenden und Ländern zugut, während 
das westliche Europa in ihr eine gefährliche Be- 
drohung seiner Landwirtschaft und stellenweise 
auch seiner Industrie erblickt. Für Deutschland 
ist dieselbe erheblich abgeschwächt worden durch 
den neuen Zolltarif und die auf Grund desselben 
abgeschlossenen neuen Handelsverträge. Der 
Eisenbahnen. 
  
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deutschen Landwirtschaft erwächst aber aus der 
durch die Eisenbahnen gewährten Verkehrserleich- 
terung immer noch der Nachteil, daß viele Land- 
bewohner in die Städte abziehen, wodurch die 
ländliche Leutenot erheblich verschärft wird. Ander- 
seits hat auch für die Städte der übermäßige Zu- 
zug von außen mannigfache Ubelstände, insbeson- 
dere auf sozialem Gebiet, im Gefolge. Den 
größten Vorteil von den Eisenbahnen hat natur- 
gemäß der Handel, speziell der Großhandel, indem 
ihm eine seiner wesentlichsten Aufgaben, nämlich 
die Bewegung von Gütern, nicht nur in seinen 
bisherigen Absatzgebieten erleichtert und verbilligt, 
sondern auch über die bisherigen Grenzen hinaus 
erst ermöglicht wird. Neben dem Handel ist an 
den Vorteilen der Eisenbahnen am stärksten die 
Industrie beteiligt, die durch sie erst groß 
geworden ist. Während früher eine gewinn- 
bringende Industrie nur an Orten möglich war, 
an denen die Rohmaterialien, wenigstens die 
hauptsächlichsten, und natürliche Betriebskräfte 
oder Kohlen zur künstlichen Erzeugung von 
Energie zusammenlagen, gestatten die Eisenbahnen 
lohnenden Industriebetrieb auch an Orten, wo 
nur eines der gedachten Erfordernisse von Natur 
gegeben ist. So sehen wir z. B. heute Hochofen- 
betriebe sowohl an Orten, wo nur Kohle, als auch 
an solchen, wo nur Erze vorkommen, wobei die 
ersteren die Erze, die andern die Kohle durch die 
Eisenbahn aus der Ferne zuführen. 
Der Bau und die Ausrüstung der Eisenbahnen, 
an deren Leistungsfähigkeit stetig wachsende An- 
sprüche gestellt werden, waren nur möglich, indem 
eine Reihe technischer Disziplinen in ihren Dienst 
gestellt wurden. Diese Wissenschaften, z. B. Geo- 
metrie, Mechanik, Statik, Dynamik, namentlich 
aber die Theorien der Eisenkonstruktion (Brücken, 
Hallen usw.) und des Tunnelbaues wurden vor 
ganz neue Aufgaben gestellt und haben in der er- 
folgreichen Arbeit an deren Lösung einen unge- 
ahnten Ausschwung genommen, der dann wieder 
dem gesamten Ingenieurwesen zustatten gekommen 
ist. Andern Wissenschaften haben die Eisenbahnen 
mittelbar die Wege geebnet oder Anregung und 
Förderung gebracht, z. B. der Geographie, Ethno- 
graphie, Chemie u. a., ganz zu schweigen davon, 
daß zahlreichen Industrien und Handwerken durch 
die Eisenbahnen neue Richtungen gewiesen und 
neue Verdienstquellen eröffnet wurden. 
Das Nachrichten= und Postwesen hat eine Ent- 
wicklung genommen, die ohne die Mitwirkung der 
Eisenbahnen ganz undenkbar gewesen wäre. Diese 
gestatten die Beförderung von Briefen in ebenso- 
viel Stunden, wie früher Tage nötig waren. In- 
folgedessen hat sich die Zahl der beförderten Brief- 
und Paketsendungen in einer Weise vervielfacht, 
daß heute allein im Deutschen Reich jährlich über 
5 Milliarden Briefe, Postkarten u. dgl. sowie 
250 Millionen Pakete eingehen. Wie hierdurch 
das Geschäftsleben gefördert und vielfach auf ganz 
neue Grundlagen gestellt wird, und wie durch
	        
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