1521
Die Bedeutung der Eisenbahnen besteht
darin, daß sie durch schnelle und billige Beför-
derung von Gütern und Personen die natürlichen
Entfernungen wirtschaftlich beseitigen. Die Schnel-
ligkeit, mit der sie ihre Arbeit vollführen, ist bei
Unterstellung einer Grundgeschwindigkeit von
75 km in der Stunde 7 bis Zmal so groß wie die
der alten Posten, und was die Billigkeit ihrer Be-
förderung anlangt, so sei darauf hingewiesen, daß
z. B. Kohlen, deren Transport in den 1830er Jah-
ren 30—40 Pfennig pro Tonnenkilometer (tkm)
kostete, heutzutage durch die Eisenbahnen bei uns
für 2,6 bis 2,2 (nach Ausnahmetarif bis zu 1,25
Pfennig) und in Nordamerika sogar für 1 Pfennig
und noch billiger pro tkm befördert werden.
Die durch die Eisenbahnen einem Land gewährte
Transportkostenersparnis bedeutet eine entspre-
chende Vermehrung des Nationalvermögens. In
überzeugender Weise ist dies in Bezug auf Frank-
reich im Jahr 1865 von Perdonnet im Traité
Glémentaire des chemins de fer (I#, Einl. VI
bis XxIM) nachgewiesen worden. Damals waren
in Frankreich ungefähr 4 Milliarden Francs in
Eisenbahnen angelegt. Perdonnet zeigt nun, daß
durch die Eisenbahnen jährlich 500 Millionen
Francs an Fracht erspart würden, was einem
Kapital von 10 Milliarden Francs entspricht.
Das Erwerbsleben wird durch die Eisenbahnen
wie durch keine andere wirtschaftliche Einrichtung
gefördert. Dies wird heute überall eingesehen und
gewürdigt, daher die unausgesetzten Bemühungen
der Landstriche, die noch keine Bahnen haben, end-
lich in den Besitz solcher zu gelangen; daher die
Erscheinung, daß ein Abgeordneter durchweg bei
seinen Wählern um so beliebter ist, je mehr es ihm
gelingt, bei der Regierung die Berücksichtigung
der Bahnwünsche seines Wahlkreises durchzusetzen.
Der Segen einer Bahn tritt schon bei ihrer An-
lage, dem Grunderwerb und dem Bau, zutage.
Ist sie aber einmal dem Betrieb übergeben, so
bringt sie erst recht wirtschaftliches Leben in eine
Gegend. Die wichtigste Wirkung der Eisenbahnen
besteht aber darin, daß sie wegen der Billigkeit
ihrer Beförderung eine ganze Reihe von Gütern,
die sog. Massengüter, wie Holz, Getreide, Kohlen,
Erze, Steine — falls solchen nicht zufällig die
Möglichkeit der Beförderung auf einer Wasser-
straße geboten ist —, erst transportwürdig machen,
und daß sie die Verschiedenheit der Warenpreise
in den verschiedenen Gegenden und Ländern immer
mehr ausgleichen und die Bildung von „Welt-
warenpreisen“ befördern. Diese Wirkung der
Eisenbahnen kommt in hohem Grad den mit ge-
ringen Kosten Landwirtschaft und Industrie be-
treibenden Gegenden und Ländern zugut, während
das westliche Europa in ihr eine gefährliche Be-
drohung seiner Landwirtschaft und stellenweise
auch seiner Industrie erblickt. Für Deutschland
ist dieselbe erheblich abgeschwächt worden durch
den neuen Zolltarif und die auf Grund desselben
abgeschlossenen neuen Handelsverträge. Der
Eisenbahnen.
1522
deutschen Landwirtschaft erwächst aber aus der
durch die Eisenbahnen gewährten Verkehrserleich-
terung immer noch der Nachteil, daß viele Land-
bewohner in die Städte abziehen, wodurch die
ländliche Leutenot erheblich verschärft wird. Ander-
seits hat auch für die Städte der übermäßige Zu-
zug von außen mannigfache Ubelstände, insbeson-
dere auf sozialem Gebiet, im Gefolge. Den
größten Vorteil von den Eisenbahnen hat natur-
gemäß der Handel, speziell der Großhandel, indem
ihm eine seiner wesentlichsten Aufgaben, nämlich
die Bewegung von Gütern, nicht nur in seinen
bisherigen Absatzgebieten erleichtert und verbilligt,
sondern auch über die bisherigen Grenzen hinaus
erst ermöglicht wird. Neben dem Handel ist an
den Vorteilen der Eisenbahnen am stärksten die
Industrie beteiligt, die durch sie erst groß
geworden ist. Während früher eine gewinn-
bringende Industrie nur an Orten möglich war,
an denen die Rohmaterialien, wenigstens die
hauptsächlichsten, und natürliche Betriebskräfte
oder Kohlen zur künstlichen Erzeugung von
Energie zusammenlagen, gestatten die Eisenbahnen
lohnenden Industriebetrieb auch an Orten, wo
nur eines der gedachten Erfordernisse von Natur
gegeben ist. So sehen wir z. B. heute Hochofen-
betriebe sowohl an Orten, wo nur Kohle, als auch
an solchen, wo nur Erze vorkommen, wobei die
ersteren die Erze, die andern die Kohle durch die
Eisenbahn aus der Ferne zuführen.
Der Bau und die Ausrüstung der Eisenbahnen,
an deren Leistungsfähigkeit stetig wachsende An-
sprüche gestellt werden, waren nur möglich, indem
eine Reihe technischer Disziplinen in ihren Dienst
gestellt wurden. Diese Wissenschaften, z. B. Geo-
metrie, Mechanik, Statik, Dynamik, namentlich
aber die Theorien der Eisenkonstruktion (Brücken,
Hallen usw.) und des Tunnelbaues wurden vor
ganz neue Aufgaben gestellt und haben in der er-
folgreichen Arbeit an deren Lösung einen unge-
ahnten Ausschwung genommen, der dann wieder
dem gesamten Ingenieurwesen zustatten gekommen
ist. Andern Wissenschaften haben die Eisenbahnen
mittelbar die Wege geebnet oder Anregung und
Förderung gebracht, z. B. der Geographie, Ethno-
graphie, Chemie u. a., ganz zu schweigen davon,
daß zahlreichen Industrien und Handwerken durch
die Eisenbahnen neue Richtungen gewiesen und
neue Verdienstquellen eröffnet wurden.
Das Nachrichten= und Postwesen hat eine Ent-
wicklung genommen, die ohne die Mitwirkung der
Eisenbahnen ganz undenkbar gewesen wäre. Diese
gestatten die Beförderung von Briefen in ebenso-
viel Stunden, wie früher Tage nötig waren. In-
folgedessen hat sich die Zahl der beförderten Brief-
und Paketsendungen in einer Weise vervielfacht,
daß heute allein im Deutschen Reich jährlich über
5 Milliarden Briefe, Postkarten u. dgl. sowie
250 Millionen Pakete eingehen. Wie hierdurch
das Geschäftsleben gefördert und vielfach auf ganz
neue Grundlagen gestellt wird, und wie durch