133
Das zu lösende Problem besteht darin, das Prin-
zip der freien Teilbarkeit des Grundeigentums in
richtigen Grenzen zu halten: das scheint uns durch
die Tat gelöst zu sein.“ — In der Zeit, wo diese
Urteile gesprochen wurden, mochten sie ihre voll-
kommene Richtigkeit haben; gegenwärtig treffen
sie in ihrer Allgemeinheit nicht mehr zu. Die freie
Agrarverfassung, welche die Revolution begründete,
ist ins Extrem ausgeartet, die Verteilung des
Grund und Bodens, die Bodenzersplitterung hat
einen mit gesundem Fortschritt der Kultur unver-
träglichen Grad erreicht. Von der ganzen urbaren
Fläche des heutigen Frankreichs wurden schon im
Jahr 1857 nach einer von der kaiserlichen Re-
gierung ausgenommenen Statistik unter 123 Mil-
lionen Parzellen 30 Prozent durch Pächter und
50 Prozent durch Halbpächter bestellt. Der größere
Grundbesitz im Süden und Westen zumal wurde
von den Eigentümern nicht mehr selbst bewirt-
schaftet, sondern durch Mittelspersonen, durch
Generalpächter und Agenten in kleinere Pacht-
stücke zerlegt, auf Halb= oder Teilpacht ausgetan,
dadurch aber der durch die Staats-- und Kom-
munallasten schon schwer belastete Bauer noch
mehr gedrückt. Man berechnete damals die Zahl
der Grundeigentümer auf 7159 284, die der
Pächter auf 2588 311, die der Halbpächter
(metagers) auf 1 412 037; die Taglöhner auf
dem Lande zu 6122 747, die der Dienstboten auf
dem Lande zu 2 748 263. Dieses Verhältnis hat
zum Nachteil der Eigentümer seitdem noch be-
deutend zugenommen. Das schöne Bild, welches
Tocqueville in seinem genannten berühmten Werk
von dem französischen Bauer entwirft, blaßt immer
mehr ab. „Er ist der Scholle, dem Boden so ganz
hingegeben, daß er all sein erspartes Geld auf den
Ankauf desselben verwendet und jeden noch so
hohen Preis dafür zahlt. Er vergräbt sein Herz
in den Grund und Boden zugleich mit dem Samen-
korn. Diese kleine Scholle, die ihm im weiten
Weltall als Eigentum gehört, erfüllt ihn mit
Stolz und mit Selbstgefühl.“ So trifft es aber
nur noch ausnahmsweise in den nördlichen und
nordöstlichen Departements zu. Der berühmte
Satz, mit dem Sieyeês damals die Freiheit und
die freie Erwerbung des Grundeigentums begrün-
dete: La patrie, C’est le sol, hat viel von seiner
Berechtigung verloren. Das ländliche Proletariat
nimmt auch in Frankreich bedenklich zu. Der
Grund liegt in dem gänzlichen Mangel an Kor-
rektivgesetzen zu der freien Veräußerung und Ver-
erbung des Grund und Bodens. Die Zusammen-
legungs-, die Konsolidationsgesetzgebung ist in
Frankreich bis jetzt noch gänzlich unbekannt, was
um so auffallender, als im Weg der Freiwillig-
keit schon vor der Revolution wirtschaftliche Zu-
sammenlegungen von Feldmarken, wenngleich nur
in sehr geringer Zahl, vorgekommen waren.
V. Die englische Agrarverfassung. Eng-
lands ursprüngliche Agrarverfassung hatte ihre
Wurzeln in der germanischen, angelsächsischen.
Agrargesetzgebung, Agrarpolitik.
134
Montesquien sagt sogar, mehr glänzend als wahr,
die ganze englische Verfassung sei in den germani-
schen Wäldern erfunden worden. Es bestand dem-
zufolge auch dort der Unterschied zwischen Freien
und Sklaven, später Leibeigenen. Den Haupt-
stamm der letzteren bildeten die unterworfenen
Briten. Die Bauern (coorls) waren in der Regel
nicht an die Scholle gebunden. Besaßen sie
600 acres (1 acre = 4046 qm)), eine eigene
Kirche und ein eigenes Herrenhaus (mansion,
was an mansus erinnert), so konnten sie in
die Klasse der Thans, der größeren Grundbesitzer
aufrücken, blieben aber auch als solche zur Dienst-
pflicht, Heeres-und Gerichtsfolge verpflichtet. Diese
sehr zahlreichen Thane zerfielen wieder in zwei
Klassen; die vornehmeren waren die Königsthane,
die ein Wergeld von 60 Pfund Sterling zahlten,
während die gewöhnlichen nur die Hälfte, die
ceorls gar nur ein solches von 10 Pfund Sterling
entrichteten. Unter den Thans waren dann wieder
ausgezeichnet die Earls, Grafen, welche ihre Be-
deutung als Grafschaftsbeamte jedoch erst im
11. Jahrh. erhielten. Auf diese altsächsische Bauern-
gemeinde pfropfte Wilhelm der Eroberer die nor-
mannische Feudalmonarchie. Er erklärte sich zum
Grundherrn des ganzen Landes und zerlegte das-
selbe in mehr als 60 000 Ritterlehen, von denen
die Hälfte den zu seinem Gefolge gehörenden
Kronvasallen als Kriegslehen und 28 115 als
geistliche Lehen ausgetan wurden. Sonach ge-
hörte gemäß der noch bis heute geltenden Rechts-
anschauung alles eigentlich freie Grundeigentum
(Allod) und alles Land dem König, mit ihm
alles Staatseigentum; alle Staatseinkünfte gelten
rechtlich als die Einkünfte des Königs; der Eng-
länder kann nur Lehen besitzen. Denn der König
ließ sich, und darin bestand ein großer Unterschied
gegenüber den Grundsätzen des langobardisch-
kontinentalen Lehnsrechts, den Eid von allen
Aftervasallen in der Form leisten, daß diese ihren
Treueid nur salva fide debita domino regi et
heredibus eins schworen. Nach dem im Jahr 1085
vollendeten großen Landregister (Clomesday-bock)
bestand diese Lehnshierarchie in fünf Klassen:
1) Die tenentes in capite, d. h. die direkt vom
König Belehnten, die barones maiores, im
ganzen nur zwölf. Diese Vasallen waren schon
in der Normandie große Herren, meist Grafen,
gewesen; ihre Gebiete, von denen nur ein einziges,
das des Earl of Chester, eine ganze Grasschaft
umfaßte, hielten aber mit den Lehnskomplexen
der großen französischen Kronvasallen keinen Ver-
gleich aus. Die französische Baronie war stets
eine autonome Herrschaft, während der englische
Baron selbst in Beziehung auf seine Gerichtsbar-
keit dem König untergeordnet blieb. Die fran-
zösische Baronie umfaßte stets einen großen, ge-
schlossenen Güterkomplex, in England vermied
solche Bildung der kluge Eroberer grundsätzlich.
Der französische Großvasall übte alle Regalien
aus, hatte Kriegs= und Fehderecht und war Landes-
5*