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unterliegenden Laßhöfe ein und zerteilten sie wie
ihre eigenen Ländereien in viele kleine Pachtgüter,
deren jedes nur gerade eine Familie ernährte,
wofür dann ein zwar geringer Zins entrichtet
wurde, aber ihr persönlicher Einfluß bedeutend
wuchs. Oder aber sie vertrieben die Kolonisten
und Pächter von ihren väterlichen Sitzen und
legten ausgedehnte Weiden und Schaftriften an.
Weltbekannt geworden sind die Beispiele, welche
die Gräfin von Sutherland und der Herzog von
Newcastle gaben. Erstere besaß im schottischen
Hochland eine früherhin souveräne Herrschaft,
über 400 000 ha groß, die von mehr als 3000
Familien, über 15000 Köpfe stark, bewohnt und
pachtweise bewirtschaftet wurde; sie begann und
vollendete in den Jahren 1811/20 das sog.
clearing system (Säuberung des Landes von
Menschen), trieb die ganze Bevölkerung schonungs-
los aus dem Land, verbrannte die Dörfer und
schuf dann 29 ungeheure Pachtungen, welche ledig-
lich zur Weide bestimmt und auf die dann 131000
Schafe aufgetrieben wurden. Sie vermehrte durch
diese Pachtungen und die dadurch gewonnene
Merinowolle allerdings ihren Reinertrag, aber
auf Kosten des Gesamtwohls des Staates. Der
Herzog von Newcastle ahmte, weniger aus öko-
nomischen wie aus politischen Gründen, weil seine
Pächter bei der Reformbill gegen seinen Willen
gestimmt, dieses Beispiel nach; es wurde, wie ge-
sagt, in Schottland förmlich System. Darum er-
lag eine Menge der kleinen Freisassengüter, deren
es zu Karls I. Zeiten noch 160 000 mit einem
Durchschnittseinkommen von 60 bis 70 Pfund
Sterling jährlich gab, dem Kapital, der Fabrik-
und Gewerbeindustrie, wogegen die Zahl der
größeren und mittleren Pächter wuchs, so daß auch
in Schottland die Agrarverhältnisse schon längst
keine naturgemäßen und gesunden mehr sind. Die
Anzahl der wirklichen Grundeigentümer beläuft
sich in Schottland gegenwärtig nur auf etwa 7850.
Die durch die Magna charta wieder möglich ge-
machten und vielfach wiederhergestellten Grund-
züge des altsächsischen Agrarrechts sind es, denen
England seine freiheitlichen Institutionen verdankt
und die auch seiner Landwirtschaft an sich den
hohen Grad von Vollkommenheit gegeben haben,
dessen sie sich unerachtet vieler Unzuträglichkeiten
mit der sozialen Strömung der Zeit immer noch
erfreut. Die rechtlich im höchsten Grad unsichere
Lage eines großen Teils der Landbevölkerung und
das unbestreitbare Mißverhältnis in Verteilung
des Grundeigentums in England ist zur Zeit noch
verhältnismäßig wenig fühlbar, weil es die Land-
lords bis heute verstanden, die Pächter, mit denen
sie in unmittelbarer Berührung blieben, ohne Druck
und sogar in einem gewissen Wohlstand zu erhalten.
VI. Die Agrarverfassung Rußlands und
Bolens. Die alten Slawenstämme kannten den
Unterschied von Ständen, eines eigenen erblichen
Adels und eines Bauernstands, überhaupt ein per-
sönliches Eigentum, nicht sie saßen in kleinen Dorf-
Agrargesetzgebung, Agrarpolitik.
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und Stammgemeinschaften unter selbstgewählten
Altesten, Arbeit und Ertrag waren gemeinsam, da-
bei bestand volle Freizügigkeit. Diese hob zuerst
der Zar Boris Gudunow 1601 auf und führte
Schollenpflichtigkeit (glebae adscriptio) ein, um
ein festes Verwachsen des dem Wandertrieb nur
zu sehr nachgebenden Volkes mit dem Boden der
Heimat herbeizuführen. Damit bildete sich dann
ein Erbadel. Peter I. erweiterte die Schollen-
pflichtigkeit zur vollständigen Leibeigenschaft und
schuf gleichzeitig einen Verdienst= und Beamten-
adel, der jenen Erbadel gar bald gänzlich in den
Hintergrund drängte. Wie in England von Rechts
wegen, wenn auch nur vermöge der Fiktion, der
König Eigentümer alles Grund und Bodens, so
war in Rußland der Zar seit Peter I. solches
tatsächlich, wie auch Eigentümer der auf dem
Grund und Boden befindlichen Leibeigenen. Die
Dienstgüter wurden dem neugeschaffenen Adel auf
Nutznießung, gewissermaßen lehnsweise verliehen,
und selbst der Erbadel blieb in beständiger Ab-
hängigkeit von der Krone, da er zum Staats= und
Heeresdienst verpflichtet war und seine Güter, wenn
er diesen Verpflichtungen nicht nachkam, wie in
England eingezogen werden konnten. Nur der
Adel hatte das Recht, Leibeigene zu besitzen, und
war dabei frei von persönlichen Abgaben und der
Rekrutenpflichtigkeit. Wie keine Stammguts-oder
Fideikommißeigenschaft, so bestand auch keine Un-
teilbarkeit der adligen Güter; die gleiche Natural-
teilung unter sämtlichen Söhnen bildete die Regel.
3 Nur einige wenige Familien genossen das Privi-
legium der Autonomie. Solchergestalt befand sich
(nach unseren Quellen: v. Haxthausen, Studien
über die inneren Verhältnisse Rußlands, 3 Bde,
1847/52) noch um die Mitte des 19. Jahrh. die
Hälfte alles kultivierten Landes im Besitz des
außerst zahlreichen Adels. Gänzlich abweichend
von dessen Grundbesitzverhältnissen gestalteten sich
die des Bauernstandes. Dessen weitaus über-
wiegender Teil war leibeigen und gutsuntertänig,
nur in den nördlichen Gouvernements genoß ein
kleiner Teil, der in dem sog. Polownick-(Hälfte=
Verhältnis, einem Pachtverhältnis, stand, wonach
die Hälfte der Ernte abgegeben wurde, persönliche
Freiheit und Freizügigkeit. Außerdem bestanden
in größerer Zahl persönlich freie Gemeinden, denen
die Feldmark eigentümlich gehörte; zu ihnen ge-
hörten alle Kosakengemeinden und die aus ein-
gewanderten deutschen Kolonisten bestehenden Ge-
meinden. Das Verhältnis der Leibeigenen zu den
freien Leuten stellte sich durchschnittlich wie 6:5,
in manchen Gouvernements wie 8:3. Im eigent-
lichen Großrußland beruhte die Agrarverfassung
ohne Unterschied von Freien und Unfreien, von
Krondörfern oder eigentümlichen Bauerngemein-
den auf der als eine Erweiterung der russischen
Familie zu betrachtenden Gemeinde. Am Grund
und Boden hatte der einzelne nur Nutzungsrechte,
und diese waren für jeden in der Gemeinde Ge-
bornen gleich. So wurden denn die Feldmarken