Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

139 
unterliegenden Laßhöfe ein und zerteilten sie wie 
ihre eigenen Ländereien in viele kleine Pachtgüter, 
deren jedes nur gerade eine Familie ernährte, 
wofür dann ein zwar geringer Zins entrichtet 
wurde, aber ihr persönlicher Einfluß bedeutend 
wuchs. Oder aber sie vertrieben die Kolonisten 
und Pächter von ihren väterlichen Sitzen und 
legten ausgedehnte Weiden und Schaftriften an. 
Weltbekannt geworden sind die Beispiele, welche 
die Gräfin von Sutherland und der Herzog von 
Newcastle gaben. Erstere besaß im schottischen 
Hochland eine früherhin souveräne Herrschaft, 
über 400 000 ha groß, die von mehr als 3000 
Familien, über 15000 Köpfe stark, bewohnt und 
pachtweise bewirtschaftet wurde; sie begann und 
vollendete in den Jahren 1811/20 das sog. 
clearing system (Säuberung des Landes von 
Menschen), trieb die ganze Bevölkerung schonungs- 
los aus dem Land, verbrannte die Dörfer und 
schuf dann 29 ungeheure Pachtungen, welche ledig- 
lich zur Weide bestimmt und auf die dann 131000 
Schafe aufgetrieben wurden. Sie vermehrte durch 
diese Pachtungen und die dadurch gewonnene 
Merinowolle allerdings ihren Reinertrag, aber 
auf Kosten des Gesamtwohls des Staates. Der 
Herzog von Newcastle ahmte, weniger aus öko- 
nomischen wie aus politischen Gründen, weil seine 
Pächter bei der Reformbill gegen seinen Willen 
gestimmt, dieses Beispiel nach; es wurde, wie ge- 
sagt, in Schottland förmlich System. Darum er- 
lag eine Menge der kleinen Freisassengüter, deren 
es zu Karls I. Zeiten noch 160 000 mit einem 
Durchschnittseinkommen von 60 bis 70 Pfund 
Sterling jährlich gab, dem Kapital, der Fabrik- 
und Gewerbeindustrie, wogegen die Zahl der 
größeren und mittleren Pächter wuchs, so daß auch 
in Schottland die Agrarverhältnisse schon längst 
keine naturgemäßen und gesunden mehr sind. Die 
Anzahl der wirklichen Grundeigentümer beläuft 
sich in Schottland gegenwärtig nur auf etwa 7850. 
Die durch die Magna charta wieder möglich ge- 
machten und vielfach wiederhergestellten Grund- 
züge des altsächsischen Agrarrechts sind es, denen 
England seine freiheitlichen Institutionen verdankt 
und die auch seiner Landwirtschaft an sich den 
hohen Grad von Vollkommenheit gegeben haben, 
dessen sie sich unerachtet vieler Unzuträglichkeiten 
mit der sozialen Strömung der Zeit immer noch 
erfreut. Die rechtlich im höchsten Grad unsichere 
Lage eines großen Teils der Landbevölkerung und 
das unbestreitbare Mißverhältnis in Verteilung 
des Grundeigentums in England ist zur Zeit noch 
verhältnismäßig wenig fühlbar, weil es die Land- 
lords bis heute verstanden, die Pächter, mit denen 
sie in unmittelbarer Berührung blieben, ohne Druck 
und sogar in einem gewissen Wohlstand zu erhalten. 
VI. Die Agrarverfassung Rußlands und 
Bolens. Die alten Slawenstämme kannten den 
Unterschied von Ständen, eines eigenen erblichen 
Adels und eines Bauernstands, überhaupt ein per- 
sönliches Eigentum, nicht sie saßen in kleinen Dorf- 
Agrargesetzgebung, Agrarpolitik. 
140 
und Stammgemeinschaften unter selbstgewählten 
Altesten, Arbeit und Ertrag waren gemeinsam, da- 
bei bestand volle Freizügigkeit. Diese hob zuerst 
der Zar Boris Gudunow 1601 auf und führte 
Schollenpflichtigkeit (glebae adscriptio) ein, um 
ein festes Verwachsen des dem Wandertrieb nur 
zu sehr nachgebenden Volkes mit dem Boden der 
Heimat herbeizuführen. Damit bildete sich dann 
ein Erbadel. Peter I. erweiterte die Schollen- 
pflichtigkeit zur vollständigen Leibeigenschaft und 
schuf gleichzeitig einen Verdienst= und Beamten- 
adel, der jenen Erbadel gar bald gänzlich in den 
Hintergrund drängte. Wie in England von Rechts 
wegen, wenn auch nur vermöge der Fiktion, der 
König Eigentümer alles Grund und Bodens, so 
war in Rußland der Zar seit Peter I. solches 
tatsächlich, wie auch Eigentümer der auf dem 
Grund und Boden befindlichen Leibeigenen. Die 
Dienstgüter wurden dem neugeschaffenen Adel auf 
Nutznießung, gewissermaßen lehnsweise verliehen, 
und selbst der Erbadel blieb in beständiger Ab- 
hängigkeit von der Krone, da er zum Staats= und 
Heeresdienst verpflichtet war und seine Güter, wenn 
er diesen Verpflichtungen nicht nachkam, wie in 
England eingezogen werden konnten. Nur der 
Adel hatte das Recht, Leibeigene zu besitzen, und 
war dabei frei von persönlichen Abgaben und der 
Rekrutenpflichtigkeit. Wie keine Stammguts-oder 
Fideikommißeigenschaft, so bestand auch keine Un- 
teilbarkeit der adligen Güter; die gleiche Natural- 
teilung unter sämtlichen Söhnen bildete die Regel. 
3 Nur einige wenige Familien genossen das Privi- 
legium der Autonomie. Solchergestalt befand sich 
(nach unseren Quellen: v. Haxthausen, Studien 
über die inneren Verhältnisse Rußlands, 3 Bde, 
1847/52) noch um die Mitte des 19. Jahrh. die 
Hälfte alles kultivierten Landes im Besitz des 
außerst zahlreichen Adels. Gänzlich abweichend 
von dessen Grundbesitzverhältnissen gestalteten sich 
die des Bauernstandes. Dessen weitaus über- 
wiegender Teil war leibeigen und gutsuntertänig, 
nur in den nördlichen Gouvernements genoß ein 
kleiner Teil, der in dem sog. Polownick-(Hälfte= 
Verhältnis, einem Pachtverhältnis, stand, wonach 
die Hälfte der Ernte abgegeben wurde, persönliche 
Freiheit und Freizügigkeit. Außerdem bestanden 
in größerer Zahl persönlich freie Gemeinden, denen 
die Feldmark eigentümlich gehörte; zu ihnen ge- 
hörten alle Kosakengemeinden und die aus ein- 
gewanderten deutschen Kolonisten bestehenden Ge- 
meinden. Das Verhältnis der Leibeigenen zu den 
freien Leuten stellte sich durchschnittlich wie 6:5, 
in manchen Gouvernements wie 8:3. Im eigent- 
lichen Großrußland beruhte die Agrarverfassung 
ohne Unterschied von Freien und Unfreien, von 
Krondörfern oder eigentümlichen Bauerngemein- 
den auf der als eine Erweiterung der russischen 
Familie zu betrachtenden Gemeinde. Am Grund 
und Boden hatte der einzelne nur Nutzungsrechte, 
und diese waren für jeden in der Gemeinde Ge- 
bornen gleich. So wurden denn die Feldmarken 
  
  
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.