Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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dung der andern Erben belastet werden muß, ist es 
geradezu eine Lebensfrage für den Grundbesitz, daß 
diese Belastung zu moͤglichst geringem Zinssatz 
und mit Amortisation, d. h. Kapitalsabtragung 
in kleinen Beträgen, herbeigeführt werden kann. 
Diese Ziele haben vor allen Dingen in Preußen 
die Landschaften, anderwärts die Hypotheken- 
beleihungsinstitute zu verfolgen. Sind die Zah- 
lungen, welche der Grundbesitzer hiernach für 
seine Rentenschulden zu leisten hat, nur so hoch, 
daß ihm für seine gesamte Lebensstellung die 
erforderlichen Mittel bleiben, so wird man das 
Schuldverhältnis kein ungesundes nennen können, 
da neben der Verzinsung noch die Abstoßung des 
Schuldkapitals, also eine Besserung des Ver- 
mögensstandes, erreicht wird. Es bedarf aber der 
Grundbesitzer, welcher neben seinem Grundbesitz 
nicht über bewegliches Kapital verfügt, namentlich 
in Fällen wirtschaftlichen Mißgeschicks einer Geld- 
quelle, die nicht zu teuer ist und aus welcher er in 
einer Art Geld erhalten kann, wie es seinen Be- 
dürfnissen entspricht. Dieses Ziel erstreben die 
in fortwährender Vermehrung und Stärkung be- 
griffenen genossenschaftlichen Spar= und Dar- 
lehenskassen für den landwirtschaftlichen Personal- 
kredit, dessen Förderung sich auch die Staaten 
angelegen sein lassen. Wir sehen also auf den 
verschiedensten Gebieten die organisierte Selbst- 
hilse unter Stärkung derselben seitens des Staats 
tätig, um die Schwierigkeiten, mit welchen die 
Landwirtschaft zur Zeit allenthalben zu kämpfen 
hat, zu überwinden. Es ist aber klar, daß alle 
diese Mittel immerhin noch eine gewisse Leistungs- 
fähigkeit des Grundbesitzes voraussetzen, durch 
deren Zusammenwirken Großes erreicht werden 
kann. Man darf sagen, alle diese Einrichtungen 
wirken dahin, auf dem Konto des Landwirts die 
Ausgaben zu verringern, und erhöhen dadurch den 
Überschuß der Einnahmen über die Ausgaben sie 
Agrargesetzgebung, Agrarpolitik. 
  
können aber auch, wo die Einnahmen zu gering 
sind, lediglich nur erreichen, daß das Defizit 
niedriger bleibt; die Wirtschaft ist aber auf die 
Dauer so doch nicht zu halten. Es kommt also 
für den Grundbesitzer vor allem darauf an, seine 
Einnahmen zu heben. Daß hierbei die wirt- 
schaftliche, geschäftliche Tüchtigkeit des Landwirts 
in erster Reihe ins Gewicht fällt, liegt auf der 
Hand; es muß aber auch die Möglichkeit vor- 
handen sein, die mit Fleiß und Tüchtigkeit her- 
vorgebrachten Produkte entsprechend zu verwerten. 
Gerade in dieser Hinsicht ist seit Mitte der 1870er 
Jahre eine erhebliche Wandlung in der seit Jahr- 
hunderten erkennbaren Preisbewegung für land- 
wirtschaftliche Produkte eingetreten. Während bis 
zu diesem Zeitraum entsprechend der sich steigern- 
den Kultur wie auf allen andern Gebieten so auch 
auf landwirtschaftlichem eine langsame, aber stetige 
Preissteigerung erkennbar war, begann seit den 
1870er Jahren ein erheblicher Preisdruck beson- 
ders beim Getreide infolge ausländischer Kon- 
kurrenz einzutreten. Der Ausbau des Eisenbahn- 
  
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netzes in Rußland, das rapide Sinken der See- 
frachten führten zu einer erheblichen Uberschwem- 
mung Süd= und Mitteleuropas mit überseeischem 
und russischem billig produziertem Getreide und 
führten zu starkem Preisdruck, der auch andere 
landwirtschaftliche Produkte in Mitleidenschaft 
zog. Diese Preissinkung wurde um so unliebsamer 
empfunden, als gleichzeitig die Produktionskosten 
namentlich infolge unausgesetzt steigender Arbeits- 
löhne, gesteigerter Verwendung von künstlichem 
Dünger und Maschinen sich von Jahr zu Jahr 
erhöhten. Alle größeren Staaten des europäischen 
Kontinents entschlossen sich infolgedessen zur Ein- 
führung von landwirtschaftlichen Schutzzöllen von 
teilweise recht erheblicher Höhe. Mit Hilfe der- 
selben gelang es zwar nicht, wieder zu den Preisen 
der 1860er und 1870er Jahre zu gelangen, aber 
doch die Preissinkung bedeutend abzuschwächen. 
Deutschland beschritt diese Bahn mit dem Zoll- 
tarif des Jahrs 1879, der zunächst sehr niedrige 
Zollsätze enthielt, die dann aber in den Jahren 
1885 und 1887 bedeutend erhöht wurden. Nach- 
dem unter dem Eindruck der hohen Preise des Not- 
jahrs 1891 die Zollsätze in den Handelsverträgen 
1892/94 erheblich herabgesetzt worden waren, 
machte sich bald wieder, besonders infolge des 
Preistiefstands um die Mitte der 1890er Jahre, 
eine lebhafte Bewegung in der gesamten deutschen 
Landwirtschaft auf Erhöhung der Zollsätze geltend. 
Der Zolltarif des Jahrs 1902 verwirklichte diese 
Bestrebungen, und in den auf Grund desselben 
abgeschlossenen Handelsverträgen, die seit März 
1906 in Kraft stehen, wurden die Brotgetreide- 
zölle in der Höhe des Zollschutzes von 1887 fest- 
gehalten. Die bisher unerheblichen Viehzölle wur- 
den ebenfalls erhöht, stehen aber noch immer er- 
heblich hinter den Zollsätzen anderer europäischer 
Staaten, besonders hinter Frankreich, zurück, wie 
auch die deutschen Getreidezölle keineswegs an 
erster Stelle stehen. Von den europäischen Staaten 
blieben außer England nur noch einige kleinere bei 
dem bisherigen System des Freihandels stehen, wo- 
durch eine erhebliche Verminderung ihrer klein= und 
mittelbäuerlichen Betriebe herbeigeführt wurde, so 
in Belgien und England. Nur da, wo ganz eigen- 
artige klimatische Verhältnisse und günstige Absatz- 
bedingungen die einseitige Ausübung der Vieh- 
zucht ermöglichten, wie in Dänemark, machte sich 
das Fehlen des Zollschutzes nicht besonders un- 
günstig bemerkbar. Im allgemeinen scheint aber 
die Entwicklung dahin zu gehen, daß die euro- 
päischen Länder einen gewissen Zollschutz während 
der nächsten Jahrzehnte noch nicht werden ent- 
behren können, solange für den Zuwachs an Be- 
völkerung eine Mehrproduktion an Getreide noch 
auf intensivem Weg, d. h. durch weitere Inan- 
baunahme jungfräulichen Bodens in den übersee- 
ischen Gebieten, möglich sein wird. Weitergehende 
Pläne dagegen, welche, wie der Antrag Kanitz, 
eine Verstaatlichung des Getreidehandels her- 
beiführen müßten, haben in Deutschland wie in
	        
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