Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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begonnen noch unter Mehemed Ali, erreichte es 
erst 1890 seine Vollendung. Von noch weit 
größerer Bedeutung ist das erwähnte Stauwerk 
bei Assuan. Die Bewässerungsanlagen (Kanäle) 
sind in den letzten Jahrzehnten bedeutend ver- 
bessert worden. Man rechnet heute etwa 60 000 
Wasserhebebäume und 35,000 Schöpfräder in 
Agypten; hierzu kommen noch Dampfpumpen, 
2500 im Delta und 1100 in Oberägypten mit 
zusammen 27000 Pferdestärken. 
Die kleinsten Grundbesitzer bewirtschaften ihr 
Land auf eigene Rechnung mit ihren Familien- 
angehörigen; die landwirtschaftlichen Arbeiter der 
großen Gutsverwaltungen erhalten sowohl baren 
Lohn als Naturalien und haben als Familien- 
häupter außerdem einen Feddan (4200 aom) Klee- 
boden für ihr Vieh. Die Verpachtung des Bodens 
giltentweder füreineeinzige Kulturperiode (Winter- 
oder Sommer-oder Herbstkultur) oder für ein Jahr 
oder für drei Jahre. Der jährliche Pachtzins für 
einen Feddan beträgt in Oberägypten 100 Piaster, 
in Unterägypten 140—150 Piaster. Zuckerrohr- 
felder bringen dagegen jährlich 9350—450 Piaster 
ein. Mehemed Ali errichtete eine Art Lehns- 
großgüter, auf denen die Arbeiter außer einer 
Wohnung 1—3 Feddans zur eigenen Bewirt- 
schaftung erhielten; sie durften nur für diese Do- 
mäne arbeiten, waren dafür aber vom Militär- 
dienst und sonstigem Frondienst befreit. Jetzt ist 
für diese Arbeiter wieder die Freizügigkeit ein- 
geführt. Mehemed Ali, durch die Vernichtung der 
mächtigen Mamluken in den Besitz großer Kom- 
plexe gelangt, verteilte in jeder Gemeinde den 
Bodenbesitz an die großjährigen Gemeindemit- 
glieder: jeder erhielt 3—4 Feddans in drei Quali- 
täten, doch nur als lebenslänglicher Nutznießer; 
sein Name war aber in dem von Mehemed Ali 
angelegten Kataster eingetragen. Seit 1854 durfte 
er die Nutznießung auch auf die Nachkommen über- 
tragen, und seit 1858 hat der Besitzer das Recht, 
Hypotheken auf das Land aufzunehmen, es zu 
verpachten, ja zu verkaufen — dennoch bleibt 
dem Staat bzw. Herrscher das formelle Eigentum. 
1861 erhielten Ausländer das Recht, Tributlände- 
reien als Eigentum zu erwerben. Auch des 1858 
noch aufrechterhaltenen formellen Eigentumsrechts 
wollte Ismail Pascha sich begeben, um neue Geld- 
mittel flüssig zu machen; dies suchte er durch das 
Monkabalagesetz (s. o. Sp. 155) zu erreichen. Auf- 
gehoben, erneuert und 1880 endgültig aufgehoben, 
hat dieses Gesetz zuwege gebracht, daß heute die 
meisten Grundsteuerzahler Agyptens auch wirkliche 
Eigentümer ihres Grundes sind; dennoch wird 
ein ungerechter Unterschied in der Höhe der Be- 
steuerung auch noch heute auf der tatsächlich be- 
seitigten historischen Unterlage der Zehnt= und der 
Tributländereien gemacht. Nicht in unbeschränktes 
Privateigentum übergegangen sind zunächst die- 
jenigen Parzellen, für welche bis jetzt noch nicht 
die Moukabala gezahlt wurde, dann die Staats- 
domänen (früheres Khedivialeigentum — Daira 
Staatslexikon. I. 8. Aufl. 
Agypten. 
  
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Sanieh), dann die im Kataster eingetragenen 
freien Staatsländereien, welch letztere allmählich 
von Privaten angekauft wurden. Etwa ein Fünf- 
tel des ägyptischen Kulturbodens befindet sich in 
Staatsbesitz; einen andern großen Teil nehmen 
die Stiftungen für Moscheen und Schulen weg. 
Namhafte Grundbesitzer sind noch die Sueskanal- 
gesellschaft (nach dem Prinzip amerikanischer Eisen- 
bahnbauten — Überlassung angrenzender Strei- 
fen), einzelne Paschas und reiche Kopten, endlich 
das ägyptische Bodenkreditigstitut infolge der fort- 
gesetzten Subhastationen. 
3. Verfassung und Verwaltung. Die 
Verwaltung des Landes ist autonom. Das staats- 
rechtliche Verhältnis zur Türkei beruht auf den 
verschiedenen der vizeköniglichen Dynastie erteilten 
Fermanen des Sultans. Agypten steht als halb- 
souveränes, tributpflichtiges Vizekönigtum unter 
der Oberhoheit der Pforte. Dieselbe wird äußerlich 
durch die Bestallung eines Kommissärs der Hohen 
Pforte in Agypten bekundet. Die Herrschaft ist 
nach dem Recht der Erstgeburt erblich. Der Vize- 
könig hat den Titel Khedive und den Rang eines 
Großwesirs, das Recht der Gesetzgebung und der 
Aufnahme von Anleihen im Ausland mit Ein- 
schränkungen, welche der Ferman vom 30. Juli 1879 
neuerdings einführte. Der 1890 durch Agypten 
und England für 60 Jahre gewährleistete Tribut 
an die Türkei beträgt (abzüglich des von den Eng- 
ländern nunmehr für den Hafen Zeila zu zahlen- 
den Betrags) 17291.000 Franken; die Türkei 
deckt damit die Kriegsanleihe von 1877. Außer- 
dem sind jährlich für Mekka und Medina 20 000 
Ardeb Weizen zu liefern. Der Khedive ist in seinen 
Befugnissen durch die Verfassung wenig einge- 
schränkt. Die Hofhaltung steht auf bescheidenem Fuß 
(100 000 ägyptische Pfund Apanage); das vize- 
königliche Kabinett zerfällt in eine türkische, eine 
arabische und eine europäische Abteilung. Das or- 
ganische Gesetz von 1883 führte Repräsentativ- 
körper ein, deren Beschlüsse im allgemeinen nicht 
verpflichtend sind, die aber zur Begutachtung ge- 
planter neuer Gesetze und Maßnahmen hinzu- 
gezogen werden müssen: 1) die „Generalversamm- 
lung“, bestehend aus den Ministern, den Mit- 
gliedern des gesetzgebenden Körpers und 14 ge- 
wählten Notabeln; 2) der gesetzgebende Körper, 
bestehend aus 14 vom Khedive ernannten und 16 
gewählten Mitgliedern; 3) die Provinzialräte in 
jeder Provinzhauptstadt. Für neue Steuern ist 
die Zustimmung der „Generalversammlung“ not- 
wendig. 1883 bestand ein Staatsrat, welcher aber 
bald durch den sog. Rechtsbeirat ersetzt wurde, ge- 
bildet aus dem Rechtsbeirat des Ministerpräsiden- 
ten und den Direktoren der Rechtsbureaus der 
übrigen Ministerien. Am Ministerrat nimmt regel- 
mäßig eine gewisse Anzahl englischer Ministerial- 
beiräte, besonders der Finanzbeirat, teil. 
Agypten zerfällt in Gouvernorate und Pro- 
vinzen. Auf Unterägypten kommen Kairo, Alex- 
andria, Damietta, Port Said und Kanal, Sues, 
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