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doxie in der protestantischen Kirche aus. Die
Kirchenpolitik der 1870er Jahre — die Anderung
der Landesverfassung und die sog. Maigesetz-
gebung — traf die evangelisch-kirchlichen Gemein-
schaften ebenso wie die katholische Kirche. Wenn
Konflikte mit jenen trotzdem nur selten eintraten,
so erklärt sich dies daraus, daß die evangelisch-
kirchlichen Grundsätze nicht entfernt in demselben
Umfange und in derselben Bestimmtheit dieser
Staatsgesetzgebung widersprachen, und daß die
Angehörigen und Diener der evangelischen Kirchen-
gemeinschaften, vornehmlich in den alten Pro-
vinzen Preußens, die Beugung unter die An-
sprüche des Staates schon seit unvordenklicher Zeit
gelernt hatten. Der alle kirchliche Freiheit und
Selbständigkeit ausschließenden Richtung dieser
gemeinsamen Gesetzgebung entsprach auch die
gleichzeitige besondere Gesetzgebung in den evan-
gelischen Kirchengemeinschaften und für dieselben.
In dem letzten Jahrzehnt seiner Regierung neigte
sich König Wilhelm I. wieder mehr der ortho-
doxen Richtung zu, wie sich namentlich in den
königlichen Ernennungen zur Generalsynode
kundgab.
Seitdem bewegt sich die Kirchenpolitik in der
gleichen Richtung. König Wilhelm II. hat
sich wiederholt zum Apostolischen Glaubens-
bekenntnisse bekannt, besonders feierlich in der von
ihm unterzeichneten Urkunde über den Akt der
Einweihung der wiederhergestellten Schloßkirche
zu Wittenberg (31. Okt. 1892). In dieser Ur-
kunde findet sich der Satz: „Wie Wir zu dem die
gesamte Christenheit verbindenden Glauben an
Jesum Christum, den menschgewordenen Gottes-
sohn, den Gekreuzigten und Auferstandenen, Uns
von Herzen bekennen, und wie Wir zu Gott
hoffen, allein durch diesen Glauben gerecht und
selig zu werden, also erwarten Wir auch von allen
Dienern der evangelischen Kirche, daß sie allzeit
beflissen sein werden, nach der Richtschnur des
Wortes Gottes in dem Sinn und Geist des durch
die Reformation wieder gewonnenen reinen
Christenglaubens ihres Amtes zu warten.“ In
einer Ansprache bei derselben Gelegenheit bezeich-
nete der König das Apostolische Glaubensbekennt-
nis als „ein Band. des Friedens, welches über
die Trennung hinüberreicht". Wenn innerhalb
des preußischen Protestantismus vielfach erwartet
worden ist, König Wilhelm II. werde sich den
Bestrebungen, der evangelischen Kirchengemein-
schaft eine größere Selbständigkeit gegenüber dem
Staate zu verleihen (Anträge v. Kleist-Retzow und
v. Hammerstein), geneigt zeigen, so hat sich diese
Erwartung bisher nicht erfüllt, der König hat
vielmehr keinen Zweifel darüber gelassen, daß er
die kirchenregimentlichen Machtbefugnisse des
Landesherrn ungeschmälert erhalten wissen will.
Bei der am 26. Dez. 1901 in Gotha statt-
gehabten Enthüllung eines Denkmals für den
Herzog Ernst den Frommen bezeichnete Wilhelm II.
in der Erwiderung auf eine Ansprache des Re-
Kirchenpolitik, preußische.
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gierungsverwesers als ein hohes Ziel seines Lebens
„eine Einigung der evangelischen Kirchen
Deutschlands in den für sie gedachten Gren-
zen“. Bei der über diesen Ausspruch in den pro-
testantischen Kreisen Deutschlands entstandenen
Erörterung wurde der Gedanke einer organischen
Verbindung der verschiedenen Landeskirchen im
Hinblick auf die einzelstaatlichen Hoheitsrechte und
die große Verschiedenheit der im deutschen Pro-
testantismus nebeneinander bestehenden konfessio-
nellen Gruppen als utopisch behandelt und ledig-
lich eine „Konföderation der Landeskirchen“ ins
Auge gefaßt, die denn auch im Jahre 1903 mit
der Gründung des „deutsch-evangelischen Kirchen-
ausschusses“ zur Tatsache geworden ist. Sein Zweck
ist, die einheitliche Entwicklung der einzelnen Landes-
kirchen zu fördern und sie nach außen hin, besonders
der katholischen Kirche gegenüber, zu einer geschlos-
senen Einheit zusammenzufassen. Daß man ihn
in der Tat in erster Linie als eine Organisation des
deutschen Protestantismus gegenüber der katho-
lischen Kirche ansehen darf, beweist der Umstand,
daß sein erstes öffentliches Hervortreten einem Pro-
test gegen die Aufhebung des § 2 des Jesuiten-
gesetzes galt.
Wie der Rückblick auf die preußische Kirchen-
politik für das evangelische kirchliche Gebiet ergibt,
haben dabei die Begünstigung der kirchlichen Or-
thodoxie und die des kirchlichen Liberalismus ab-
gewechselt. Aber auch in diesem Wechsel ist der
unwandelbare Grundsatz festgehalten worden, daß
die kirchliche Lehre und Verfassung dem Staats-
interesse, wie das jeweilige Regierungssystem das-
selbe versteht, unbedingt untergeordnet und diese
Unterordnung mit allen staatlichen Machtmitteln
zur Geltung zu bringen sei.
Literatur. Max Lehmann, Preußen u. die
kath. Kirche seit 1640, nach den Akten des Ge-
heimen Staatsarchivs (7 Tle, 1878/94, fortgesetzt
von Granier, 8. TI 1902); Jul. Bachem, Preußen
u. die kath. Kirche (51887; die vorgenannten bei-
den Publikationen sind vorstehender Abhandlung
hauptsächlich zugrunde gelegt); I. H. Floß (hrsg.
aus dessen Nachlaß), Zum klevisch-märkischen Kir-
chenstreit (1883); Adolf Franz, Die gemischten
Ehen in Schlesien (1878); Laspeyres, Gesch. u.
heutige Verfassung der kath. Kirche Preußens
(1840); Franz Hipler, Briefe u. Jahrbücher des
Fürstbischofs von Ermland, Joseph Prinz von
Hohenzollern -Hechingen (1883); Korrespondenz
zwischen dem apostol. Verwalter der Erziözese Köln,
Johannes v. Geissel, u. dem Kardinal-Staatssekre-
tär Lambruschini, im Archiv für kath. Kirchenrecht
1884; Hirschel, Das Recht der Regierungen be-
züglich der Bischofswahlen (1870); Briefwechsel
des Erzbischofs Graf Ferdinand August Spiegel
zum Desenberg, in Histor.-polit. Blätter 1882,
Bd 89; Klemens August Freiherr Droste zu Vi-
schering, Erzbischof von Köln, über den Frieden
unter der Kirche u. den Staaten (1843); Emil
Friedberg, Die Grundlage der preuß. Kirchenpolitik
unter Friedrich Wilhelm IV. (1882); A. v. Reu-
mont, Aus König Friedrich Wilhelms IV. gesunden
u. kranken Tagen (1884); Diplomat. Korrespon-