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Beruf der Kirche. Der Gegensatz zwischen dem
Christentum und der antiken Weltanschauung er-
schöpft sich aber keineswegs in dem kosmopolitischen
Zuge der christlichen Lehre, welche an Stelle der
Nationalreligionen des Altertums eine Welt-
religion begründen soll; die christliche Lehre konnte
ihrem Wesen nach niemals das antike Dogma
von der absoluten Macht des Staates gegenüber
seinen Gliedern anerkennen. Das Christentum
fordert die Beschränkung der antiken Staats-
allmacht kraft seines göttlichen Berufes. Der
Staat darf über seine Glieder nicht eine absolute
Gewalt in Anspruch nehmen: es ist Pflicht, der
Staatsgewalt den Gehorsam zu versagen, wenn
dieser das höchste, ewige Ziel des Individuums
gefährdet und der Kirche die Erfüllung ihrer Mis-
sion, welche ihr der göttliche Stifter zur Pflicht
gemacht hat, verwehrt wird.
Die Trennung der kirchlichen und der staat-
lichen Gemeinschaft, der Gegensatz von Kirche
und Staat, welcher mit dem Christentum ent-
steht, darf uns daher nicht etwa bloß als eine
zufällige Folge jenes Existenzkampfes gelten,
welchen die neue religiöse Gemeinschaft gegen den
ihr feindlichen heidnischen Staat zu führen hatte.
Der göttliche Beruf der christlichen Kirche reicht
weit hinaus über die Grenzen und die Lebens-
dauer der einzelnen Staaten und Völker. Die
Mission ihres göttlichen Stifters verweist die
Kirche an alle Völker und Reiche bis ans Ende
der Zeiten. So wie die Kirche die Erfüllung ihrer
Aufgabe nicht von der Zulassung eines Staates
abhängig machen darf, konnte sich dieselbe auch
niemals einem bestimmten politisch = nationalen
Verbande, dem Organismus eines Staatslebens,
eingliedern lassen. Die Kirche des Christentums
konnte nur ein selbständiger, vom Staate wesent-
lich getrennter religiöser Verband sein, eine An-
stalt des ethischen Gemeinlebens, welche nicht im
Staate aufgeht, ihre Existenzberechtigung nicht
von ihm herleitet, vielmehr unabhängig von jeder
Anerkennung der Staatsgewalt den Grund ihres
Bestandes, die Legitimation zu der ihrem gött-
lichen Berufe entsprechenden Wirksamkeit in der
ihr vom Stifter übertragenen Autoritätsmission
zu erblicken hat.
Die neue sittliche Gemeinschaft, welche mit dem
Christentum entstanden ist, bedingt auch sofort die
Existenz einer kirchlichen Rechtsordnung; mit der
Kirche entstand auch das Kirchenrecht. Die
Existenz der Kirche, einer äußern, sichtbaren An-
stalt für ein Gebiet des ethischen Lebens, fordert
mit Notwendigkeit eine Rechtsordnung für diese
Organisation des religiösen Lebens. Ohne Rechts-
ordnung kann es eine solche Kirche nicht geben,
„sie trägt notwendig Rechtsordnung an sich“
(Dove). Es gibt ein Kirchenrecht, seit es eine
Kirche gibt, und nicht etwa erst, seitdem der
römische Staat der christlichen Kirche den staat-
lichen Schutz ihrer Ordnungen gewährte. Die
Behauptung, eine ethische Norm könne als Rechts-
Kirchenrecht.
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satz nur dann gelten, wenn deren Beobachtung
von der Staatsgewalt geboten und mit den Macht-
mitteln des Staates erzwungen wird (so Mejer
in der Zeitschrift für Kirchenrecht XI (18731 304;
Hinschius in Birkmeyers Enzyklopädie der Rechts-
wissensch. (1901) 949, 950; Burckhard, OÖster-
reichisches Privatrecht I 23, 25, 167; Ihering,
Zweck im Recht I 319; Seydel, Ernst Mayer,
Zorn u. a.), muß als ein Irrtum bezeichnet wer-
den, welcher das Wesen des Rechts verkennt und
auf der falschen Vorstellung beruht, daß der
Staat die Quelle alles Rechts sei. Dann aller-
dings dürfte man von einem Kirchenrecht im
eigentlichen Sinne gar nicht sprechen; dann würde
vielmehr eine rechtliche Existenz überhaupt nur
der in einem bestimmten Staatswesen aufgenom-
menen Partikularkirche zukommen, es gäbe nur
eine Rechtsordnung für die Kirche des Staates,
welche dieser festsetzt oder zuläßt (staatliches Kirchen-
recht im engeren Sinne — autonomes Kirchen-
recht). Die Quelle dieses nur im Staate mög-
lichen Kirchenrechts, welches grundsätzlich nur ein
„einzelstaatliches, partikuläres“ sein kann, wäre
die rechtschaffende Autorität des Staakes, welcher
die Rechtsnormen für die Kirche selbst festsetzt oder
dieser die autonome Rechtsbildung innerhalb des
vom Staate vorgezeichneten Rahmens gestattet.
Ist das Recht nur der Komplex jener Gebote,
welche der Staat selbst erläßt und handhabt, sowie
der Normen, deren autonome Satzung er gestattet
und mit seiner Zwangsgewalt schützt, dann ist
auch eine innerkirchliche Rechtsbildung nur auf
der Grundlage der Autonomie möglich, welche der
Staat der ihm unterworfenen Kirche einräumt.
Dieses kirchliche Recht hätte nur die Bedeutung
eines „staatlich autorisierten Verbandsrechts“,
dessen rechtliches Ansehen und verpflichtende Kraft
nur auf der staatlichen Zulassung beruht; Normen,
welche die Grenzen der vom Staat eingeräumten
Autonomie überschreiten, würden von vornherein
der rechtlichen Bedeutung entbehren.
Die Existenz des Rechts setzt jedoch nicht den
Staat und seine Zwangsgewalt voraus; die
Existenz des Rechts beruht nicht auf dem äußern
staatlichen Zwange, sondern auf „der innern ver-
nünftigen Notwendigkeit des Rechts“ (vgl. Moy
de Sons im Archiv für kath. Kirchenrecht I 66). In
jeder ethischen Gemeinschaft, in jeder Anstalt des
sittlichen Gemeinlebens empfindet der Rechtssinn
der vernünftigen Menschennatur mit Notwendig-
keit das Bedürfnis einer Rechtsordnung, welche
als Gebot einer über den einzelnen stehenden
Autorität Gehorsam findet, weil die Existenz der
Rechtsordnung als eine Lebensbedingung jedes
sittlichen Ganzen erkannt, oder richtiger gesagt,
empfunden wird. Die Wirksamkeit (Realisierbar-
keit) des Rechts beruht nicht etwa bloß auf der
Furcht „vor dem Büttel“, vor der drohenden
Zwangsgewalt, sondern auf der Achtung vor der
Autorität und ihren Geboten. Das Ansehen der
Rechtsordnung wurzelt in der Achtung vor der