Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Beruf der Kirche. Der Gegensatz zwischen dem 
Christentum und der antiken Weltanschauung er- 
schöpft sich aber keineswegs in dem kosmopolitischen 
Zuge der christlichen Lehre, welche an Stelle der 
Nationalreligionen des Altertums eine Welt- 
religion begründen soll; die christliche Lehre konnte 
ihrem Wesen nach niemals das antike Dogma 
von der absoluten Macht des Staates gegenüber 
seinen Gliedern anerkennen. Das Christentum 
fordert die Beschränkung der antiken Staats- 
allmacht kraft seines göttlichen Berufes. Der 
Staat darf über seine Glieder nicht eine absolute 
Gewalt in Anspruch nehmen: es ist Pflicht, der 
Staatsgewalt den Gehorsam zu versagen, wenn 
dieser das höchste, ewige Ziel des Individuums 
gefährdet und der Kirche die Erfüllung ihrer Mis- 
sion, welche ihr der göttliche Stifter zur Pflicht 
gemacht hat, verwehrt wird. 
Die Trennung der kirchlichen und der staat- 
lichen Gemeinschaft, der Gegensatz von Kirche 
und Staat, welcher mit dem Christentum ent- 
steht, darf uns daher nicht etwa bloß als eine 
zufällige Folge jenes Existenzkampfes gelten, 
welchen die neue religiöse Gemeinschaft gegen den 
ihr feindlichen heidnischen Staat zu führen hatte. 
Der göttliche Beruf der christlichen Kirche reicht 
weit hinaus über die Grenzen und die Lebens- 
dauer der einzelnen Staaten und Völker. Die 
Mission ihres göttlichen Stifters verweist die 
Kirche an alle Völker und Reiche bis ans Ende 
der Zeiten. So wie die Kirche die Erfüllung ihrer 
Aufgabe nicht von der Zulassung eines Staates 
abhängig machen darf, konnte sich dieselbe auch 
niemals einem bestimmten politisch = nationalen 
Verbande, dem Organismus eines Staatslebens, 
eingliedern lassen. Die Kirche des Christentums 
konnte nur ein selbständiger, vom Staate wesent- 
lich getrennter religiöser Verband sein, eine An- 
stalt des ethischen Gemeinlebens, welche nicht im 
Staate aufgeht, ihre Existenzberechtigung nicht 
von ihm herleitet, vielmehr unabhängig von jeder 
Anerkennung der Staatsgewalt den Grund ihres 
Bestandes, die Legitimation zu der ihrem gött- 
lichen Berufe entsprechenden Wirksamkeit in der 
ihr vom Stifter übertragenen Autoritätsmission 
zu erblicken hat. 
Die neue sittliche Gemeinschaft, welche mit dem 
Christentum entstanden ist, bedingt auch sofort die 
Existenz einer kirchlichen Rechtsordnung; mit der 
Kirche entstand auch das Kirchenrecht. Die 
Existenz der Kirche, einer äußern, sichtbaren An- 
stalt für ein Gebiet des ethischen Lebens, fordert 
mit Notwendigkeit eine Rechtsordnung für diese 
Organisation des religiösen Lebens. Ohne Rechts- 
ordnung kann es eine solche Kirche nicht geben, 
„sie trägt notwendig Rechtsordnung an sich“ 
(Dove). Es gibt ein Kirchenrecht, seit es eine 
Kirche gibt, und nicht etwa erst, seitdem der 
römische Staat der christlichen Kirche den staat- 
lichen Schutz ihrer Ordnungen gewährte. Die 
Behauptung, eine ethische Norm könne als Rechts- 
Kirchenrecht. 
  
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satz nur dann gelten, wenn deren Beobachtung 
von der Staatsgewalt geboten und mit den Macht- 
mitteln des Staates erzwungen wird (so Mejer 
in der Zeitschrift für Kirchenrecht XI (18731 304; 
Hinschius in Birkmeyers Enzyklopädie der Rechts- 
wissensch. (1901) 949, 950; Burckhard, OÖster- 
reichisches Privatrecht I 23, 25, 167; Ihering, 
Zweck im Recht I 319; Seydel, Ernst Mayer, 
Zorn u. a.), muß als ein Irrtum bezeichnet wer- 
den, welcher das Wesen des Rechts verkennt und 
auf der falschen Vorstellung beruht, daß der 
Staat die Quelle alles Rechts sei. Dann aller- 
dings dürfte man von einem Kirchenrecht im 
eigentlichen Sinne gar nicht sprechen; dann würde 
vielmehr eine rechtliche Existenz überhaupt nur 
der in einem bestimmten Staatswesen aufgenom- 
menen Partikularkirche zukommen, es gäbe nur 
eine Rechtsordnung für die Kirche des Staates, 
welche dieser festsetzt oder zuläßt (staatliches Kirchen- 
recht im engeren Sinne — autonomes Kirchen- 
recht). Die Quelle dieses nur im Staate mög- 
lichen Kirchenrechts, welches grundsätzlich nur ein 
„einzelstaatliches, partikuläres“ sein kann, wäre 
die rechtschaffende Autorität des Staakes, welcher 
die Rechtsnormen für die Kirche selbst festsetzt oder 
dieser die autonome Rechtsbildung innerhalb des 
vom Staate vorgezeichneten Rahmens gestattet. 
Ist das Recht nur der Komplex jener Gebote, 
welche der Staat selbst erläßt und handhabt, sowie 
der Normen, deren autonome Satzung er gestattet 
und mit seiner Zwangsgewalt schützt, dann ist 
auch eine innerkirchliche Rechtsbildung nur auf 
der Grundlage der Autonomie möglich, welche der 
Staat der ihm unterworfenen Kirche einräumt. 
Dieses kirchliche Recht hätte nur die Bedeutung 
eines „staatlich autorisierten Verbandsrechts“, 
dessen rechtliches Ansehen und verpflichtende Kraft 
nur auf der staatlichen Zulassung beruht; Normen, 
welche die Grenzen der vom Staat eingeräumten 
Autonomie überschreiten, würden von vornherein 
der rechtlichen Bedeutung entbehren. 
Die Existenz des Rechts setzt jedoch nicht den 
Staat und seine Zwangsgewalt voraus; die 
Existenz des Rechts beruht nicht auf dem äußern 
staatlichen Zwange, sondern auf „der innern ver- 
nünftigen Notwendigkeit des Rechts“ (vgl. Moy 
de Sons im Archiv für kath. Kirchenrecht I 66). In 
jeder ethischen Gemeinschaft, in jeder Anstalt des 
sittlichen Gemeinlebens empfindet der Rechtssinn 
der vernünftigen Menschennatur mit Notwendig- 
keit das Bedürfnis einer Rechtsordnung, welche 
als Gebot einer über den einzelnen stehenden 
Autorität Gehorsam findet, weil die Existenz der 
Rechtsordnung als eine Lebensbedingung jedes 
sittlichen Ganzen erkannt, oder richtiger gesagt, 
empfunden wird. Die Wirksamkeit (Realisierbar- 
keit) des Rechts beruht nicht etwa bloß auf der 
Furcht „vor dem Büttel“, vor der drohenden 
Zwangsgewalt, sondern auf der Achtung vor der 
Autorität und ihren Geboten. Das Ansehen der 
Rechtsordnung wurzelt in der Achtung vor der
	        
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