207
Autorität des sittlichen Ganzen über seine Glieder.
Diese Achtung ist das wesentliche Moment, welches
dem Recht sowohl seinen sittlichen Adel wie die
Sicherheit und Bürgschaft seiner Geltung verleiht.
Auch außerhalb des Staates kann sich eine Rechts-
ordnung bilden, sobald in einem sittlichen Gemein-
wesen eine Autorität besteht, deren Gebote Achtung
nden.
Den Normen der Kirche die Qualität wahrer
Rechtssätze abzusprechen, wäre übrigens selbst dann
durchaus unzulässig, wenn man von der Ansicht
ausginge, daß dem Zwangsmoment im Rechts-
begriff nicht genügt sei durch den Hinweis auf
die natürliche und vernünftige Notwendigkeit der
Unterordnung des einzelnen gegenüber dem Willen
der Autorität, welcher als Wille des sittlichen
Ganzen geachtet werden muß, falls überhaupt ein
solches Gemeinleben in einem sittlichen Ganzen
bestehen soll. (Gegen die Ansicht, welcher der
Zwang für ein konstituierendes, ursprüngliches
Merkmal des Rechts gilt, vgl. die Ausführungen
Scheurls in der Zeitschrift für Kirchenrecht XII
11874] 57f; über die Auffassung Bierlings
LJuristische Prinzipienlehre 1I 49 welcher der
Zwangsanwendung auch die Bedeutung eines
sekundären Merkmals bestreitet, s. Bekker in der
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 1.
111 ff und dessen System des heutigen Pandekten-
rechts 47, 48, Note e. Vgl. übrigens Kirchmann,
Grundbegriffe des Rechts und der Moral /21873)
110; A. Merkel, Elemente der allgem. Rechts-
lehre, in Holtzendorffs Enzyklopädie der Rechts-
wissenschaft" 11 ff.)
Auch wer es für ein wesentliches Merkmal des
Rechts hält, daß ein äußerer Zwang für dessen
Verwirklichung bestehe, daß also ein Apparat
äußerer Machtmittel eine beständige Gewähr für
die Realisierung der Rechtsordnung biete, kann
den von der Kirche aufgestellten Normen den
Charakter des Rechts nicht etwa deshalb bestreiten,
weil sie nicht erzwingbar seien (ugl. Scheurl a. a.
O. 58; Dove in Richters Kirchenrecht 6). Auch
wenn der Kirche der staatliche Zwang nicht zur
Seite steht, fehlt es ihr nicht an Mitteln, die
Rechtsordnung durchzusetzen, welche für ihren Be-
stand als sittliche Gemeinschaft unentbehrlich ist,
indem sie gegen ihre Angehörigen kirchliche Zucht-
mittel verhängt, ihnen kirchliche Rechte entzieht,
ja sie endlich von den Rechten der Mitgliedschaft
gänzlich ausschließt. Die Zwangsgewalt der Kirche,
die ihr zu Gebote stehenden äußern Machtmittel
bieten freilich nur eine geringere Gewähr für den
Schutz der kirchlichen Rechtsordnung als die Durch-
setzung derselben mit Hilfe der staatlichen Zwangs-
gewalt. Es gibt eben Rechtsnormen mit voll-
kommenerer und Rechtsnormen mit minder voll-
kommener Garantie ihrer Realisierung (vgl. Scheurl
a. a. O. 55; Bekker a. a. O.), weil es eine Gra-
dation der Sicherheit des Rechtsschutzes gibt. Eine
absolute Garantie für die Realisierung des Rechts,
für die Wirksamkeit des Rechtsschutzes existiert
Kirchenrecht.
208
überhaupt nicht; eine solche kann auch der Staat
mit allen seinen Machtmitteln nicht verbürgen.
Den modernen Theorien, welche den vom Staat
nicht geschützten kirchlichen Normen den Charakter
des Rechts bestreiten, darf man meines Erachtens
wohl mit Grund den Vorwurf machen, daß sie
die Lage der Kirche in Ländern und Perioden des
religiösen Indifferentismus, in denen vielleicht die
Mehrzahl der Kirchenglieder der Kirche innerlich
entfremdet, gegen die Gnadenmittel derselben gleich-
gültig, gegen die Strafen der kirchlichen Disziplin
unempfindlich ist, als die normale voraussetzen.
In der desorganisierten Kirche, in den Perioden
des Verfalles der Kirchenzucht werden freilich die
Versuche der kirchlichen Autorität, die kirchliche
Rechtsordnung zu verwirklichen, häufig vergeblich
sein. Man darf aber solche Epochen der Des-
organisation nicht als Maßstab der Beurteilung
gelten lassen, sonst würde man ja auch den Normen
der Staatsautorität den Rechtscharakter absprechen
müssen. Im desorganisierten Staat ist ja die
Realisierung des staatlichen Rechts oft nicht minder
unsicher. Will man etwa auch im Leben des
Staates die Zeiten der politischen Kämpfe und
Umwälzungen als den normalen Zustand und als
Prüfstein der Bedeutung des Staatsrechts gelten
lassen, die Richtschnur für die Beurteilung des
Charakters dieser ethischen Normen den Epochen
der Revolution und den Zuständen eines ver-
fallenden Staatswesens entlehnen?
Das Kirchenrecht ist also ein selbständiges
Gebiet der Rechtsordnung, welches mit der
Kirche, der von Christus gestifteten Gemeinschaft
der Gottesverehrung, entstanden ist. Wie jede
Anstalt des sittlichen Gemeinlebens, so konnte auch
die Kirche nicht ohne eine Ordnung existieren,
welche die Aufgaben erfüllt, die dem Rechte in
jedem solchen ethischen Gemeinwesen zufallen,
nämlich sich als die vernünftig notwendige Lebens-
ordnung zu bewähren, ohne welche die gottes-
dienstliche Gemeinschaft der Garantie ihrer Lebens-
bedingungen gegen Störungen durch die Willkür
einzelner entbehren müßte und ihre wesentliche
Mission nicht zu erfüllen vermöchte. Das Kirchen-
recht ist demnach die mit der Kirche selbst entstan-
dene rechtliche Ordnung dieses neuen Gebietes
des sittlichen Gemeinlebens. Wir können das
Kirchenrecht, die Lebensordnung der von Christus
gestifteten Kirche, definieren als den Inbegriff der
Normen, welche die Verhältnisse und Beziehungen
regeln, die durch das Leben der Menschen in dieser
christlichen gottesdienstlichen Gemeinschaft be-
gründet werden (ugl. Groß, Zur Begriffsbestim-
mung des Kirchenrechts (1872) 15 ff; Hinschius
in Holtzendorffs Enzyklopädie I5* 860; Stutz, ebd.
6. Aufl. 902 f; Kahl, Lehrsystem des Kirchen-
rechts und der Kirchenpolitik 1 84, definiert das
Kirchenrecht als die „Gemeinschaftsordnung der
gesellschaftlich gegliederten Bekenner der christlichen
Offenbarung“; zur Würdigung dieser Definition
vgl. das. S. 84/88 u. Gött. Gel. Anz. 1897, 678).