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II. Kirchenrecht und kanonisches Recht.
Die Bezeichnungen „Kirchenrecht“ (ius eccle-
siasticum) und „kanonisches Recht“ (ius cano-
nicum) sind der neueren Wissenschaft nicht iden-
tisch. Ius KCanonicum — ein technischer
Ausdruck, welcher seit dem 12. Jahrh. im Ge-
brauch ist — bedeutet das auf kirchlicher Rechts-
satzung ruhende Recht. Die von der kirchlichen
Autorität aufgestellten Rechtsnormen (zunächst seit
dem 4. Jahrh. die Beschlüsse der Synoden) werden
bald allgemein als canones bezeichnet. Wo es
darauf ankommt, den Gegensatz geistlichen und
weltlichen Rechts hervorzuheben, bedeutet schon im
Sprachgebrauche der frühmittelalterlichen Epoche
lex (scil. saeculi seu mundana) die von der
weltlichen Autorität aufgestellte Rechtsnorm, canon
hingegen allgemein die Rechtsnorm kirchlichen Ur-
sprunges, sie möge auf gesetzgeberischer Anordnung
beruhen oder in der Kirche gewohnheitsrechtlich
entstanden sein. Der Etymologie des Ausdrucks
entsprechend ist also ius canonicum identisch mit
dem Inbegriff der Normen kirchlichen Ursprunges.
Seitdem die vor der Mitte des 12. Jahrh. ent-
standene Rechtssammlung Gratians, welche die
älteren Kollektionen kirchlicher Rechtsquellen gänz-
lich aus dem Gebrauche verdrängte, und die offi-
ziellen Kompilationen, welche von den Päßpsten
des 13. und 14. Jahrh. veranlaßt wurden, die
alleinige Erkenntnisquelle dieses auf kirchlichem
Boden entstandenen Rechts bildeten und als offi-
zielles Corpus juris canonici Schule und Rechts-
leben beherrschten, wurde nunmehr vornehmlich
das im Corpus iuris canonici enthaltene Recht
als das ius canonicum im eigentlichen Sinne
bezeichnet. Dieses ius canonicum ist nicht iden-
tisch mit der Gesamtheit der Normen kirchlichen
Ursprunges, sondern bezeichnet nur das Recht der
klassischen Epoche des Corpus iuris canoniei,
das Recht einer bestimmten Entwicklungsstufe des
kirchlichen Lebens. Dieses heute zum großen Teile
antiquierte Recht beruht wesentlich auf der päpst-
lichen Gesetzgebung (den päpstlichen Dekretalen)
des 12. und 13. Jahrh., die ein einheitliches Recht
schusen und das ältere Recht, welches faktisch vor-
wiegend ein Ergebnis partikulärer Entwicklung
war, verdrängten; die antiqui canones, das ius
antiquorum canonum müssen dem „ius novum
decretalium“ weichen. An diesen schon den Ka-
nonisten des 12. Jahrh. geläufigen Sprachgebrauch
erinnert die noch jetzt übliche Ausdrucksweise, welche
dieses Recht der Zeit höchster kirchlicher Machtent-
faltung nach dem vornehmsten Faktor seiner Ent-
wicklung als „Dekretalenrecht“ bezeichnet.
Der Begriff des kanonischen Rechts umfaßt
nicht mehr das jüngere, seit dem Abschluß des
Corpus iuris canonici entstandene Kirchenrecht,
für dessen Fortbildung insbesondere die Beschlüsse
des Trienter Konzils entscheidend waren. Dieses
von der Schule so genannte ius ecclesiasticum
novissimum bedeutet die Gesamtheit der Normen,
welche die kirchliche Rechtsordnung der modernen
Kirchenrecht.
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Zeit darstellen, eine Rechtsordnung, welche wohl
noch zum großen Teile im kanonischen Rechte ihre
Grundlage hat, während anderseits wichtige Ge-
biete des kirchlichen Lebens durch die neueren
Rechtsquellen in reformatorischer Weise so durch-
greifend umgestaltet wurden, daß in diesen Fragen
dem Dekretalenrecht nur mehr ein geschichtliches
Interesse zukommt. Ebenso haben jene Bestim-
mungen des kanonischen Rechts ihre Geltung ein-
gebüßt, in denen die Kirche auf Grund des
Machtbereiches, welchen ihr die mittelalterliche
Kulturentwicklung der abendländischen Nationen
überließ, eine internationale Rechtsordnung hand-
habte und Normen für wichtige Gebiete der staat-
lichen Verwaltungsaufgaben geschaffen hatte. Das
kanonische Recht beschränkt seine Normen keines-
wegs auf das besondere Gebiet des Kirchenrechts,
das kanonische Rechtsbuch enthält umfassende Be-
stimmungen über privatrechtliche Verhältnisse, über
Kriminalrecht und Prozeß. Die Kirche hatte ihre
Gesetzgebung wie die Zuständigkeit ihrer Gerichte
auf ein Gebiet erweitert und Aufgaben übernom-
men, welche nach unserer Auffassung wohl zum
eigentümlichen Berufe des Staates gehören, wäh-
rend der mittelalterliche Feudalstaat sich dieser
seiner Aufgaben noch kaum bewußt geworden war,
so daß solche wichtige Interessen der Gesellschafts-
ordnung und der Kulturentwicklung vorwiegend
bei der Kirche Schutz und Fürsorge finden mußten.
(Den Zeitgenossen dieser Entwicklung fehlt natur-
gemäß die Erkenntnis, das theoretische Bewußt-
sein der Tatsache, daß die Kirche mit dieser Gesetz-
gebung ihre Kompetenz auf das staatliche Gebiet
erweitert hat; dieses Bewußtsein hat erst die be-
ginnende staatliche Reaktion gegen die Ausdehnung
der kirchlichen Machtsphäre geschaffen. Darum
konnten der Schule des 12. und 13. Jahrh. ius
ecclesiasticum und ijus canonicum noch als
identische Bezeichnungen gelten, welche ohne wei-
tere Unterscheidung angewandt wurden).
Das kanonische Rechtsbuch, in welchem sich das
Ergebnis der gesamten kirchlichen Gesetzgebung
konzentriert, hat ferner auch jene Grundsätze auf-
genommen, die das Dekretalenrecht namens der
alle christlichen Völker beherrschenden kirchlichen
Autorität als maßgebende Norm des christlich-
europäischen Völkerlebens im Sinne der Forde-
rungen des hierokratischen Systems aufstellt, welche
uns also das Völkerrecht dieser christlich-europäi-
schen Staatengemeinschaft bedeuten (s. d. Art.
Kirche und Staat und weiter unten die Bemer-
kungen über die welthistorische Bedeutung des
Kirchenrechts).
Während diese im kanonischen Rechtsbuche
aufgenommenen kirchlichen Rechtssatzungen über
das Gebiet des Kirchenrechts hinausreichen und
wir sie deshalb als Normen bezeichnen müssen,
welche, obwohl kirchlichen Ursprungs und von der
kirchlichen Autorität aufgestellt, inhaltlich dennoch
dem weltlichen Recht angehören, haben anderseits
im Gebiete des Kirchenrechts Rechtsnormen ver-