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und Kanonisten, welche die Grundlehre der moder-
nen Rechtswissenschaft, die Erkenntnis der geschicht-
lichen Natur des Rechts („die historische Ansicht
des Rechtslebens“), nicht würdigen, noch immer
den Standpunkt des „Rechtspositivismus“ be-
kämpfen zu müssen. Hier wird verkannt, daß es
im Prinzip ebenso bedenklich ist, wenn man eine
„spekulative“ Konstruktion der Grundlagen kirch-
licher Rechtsordnung „aus der Natur der Kirche
als äußerer Gesellschaft“ auch nur für zulässig
erklärt, um den Nachweis zu erbringen, daß die
von Christus eingesetzte Kirche und ihre göttliche
Rechtsordnung dem allein vernunftgemäßen Ur-
bilde einer Kirche und ihrer vollkommenen Ver-
fassung entspreche. In der Ablehnung solcher
grundsätzlich bedenklichen Konstruktionen sollte
man sich durch deren (vermeintlichen) apologeti-
schen Zweck nicht beirren lassen: das „natürliche
Kirchenrecht“ der Aufklärung hat, indem es die
Vernunft für seine Rechtsquelle erklärte, den Zu-
stand als den idealen und einzig vernünftigen
„erwiesen“, in welchem der Staat, die allein not-
wendige Rechtsanstalt, die Kirche wie einen Privat-
verein (wie einen „Klub“ oder eine „gelehrte
Sozietät") behandelt. In der Zeit des sog. Kultur-
kampfes wiederum versuchte eine „rechtsphilo-
sophische" Darstellung, für welche aber die deutsche
Rechtswissenschaft nicht verantwortlich ist, den
„Beweis“, daß die (schon heute antiquierten)
Kampfgesetze des preußischen Staates als „grund-
sätzlich allgemeingültige“, „auf unveränderlichen
Grundsätzen“ beruhende Normen angesehen werden
müßten, weil sie allein in der „Natur“ des Ver-
hältnisses von Staat und Kirche, „den allgemeinen
Bedingungen, an welche das Zusammensein eines
religiösen und eines politischen Gemeinwesens
überall geknüpft ist“, begründet seien. (Für die
hier bekämpfte Auffassung unter andern Ludwig
Bendix, Kirche und Kirchenrecht 16, 85 f.)
Die der Rechtswissenschaft allgemein geläufigen
Einteilungen der Rechtsnormen: nach ihrer Quelle
(ihrem Entstehungsgrunde) und nach dem Umfang
ihres Geltungsgebiets, nach ihrem Verhältnisse zu
den allgemeinen, die bestehende Rechtsordnung
beherrschenden Prinzipien (zur Rechtskonsequenz,
ratio juris), nach ihrem (zwingenden oder „nach-
giebigen") Charakter, finden auch auf das Kirchen-
recht Anwendung. Wir unterscheiden auch im
Kirchenrecht Gesetzes= und Gewohnheitsrecht, ge-
meines und partikuläres Recht, regelmäßiges und
regelwidriges Recht (anomales, singuläres Recht,
Privileg), zwingendes (absolutes) und „nach-
giebiges“ Recht (ergänzendes, vermittelndes, hypo-
thetisches Recht; herkömmlich wird es zumeist
unpassend als dispositives Recht bezeichnet). Hin-
sichtlich dieser Einteilungen des objektiven Rechts
glauben wir darum den Leser im allgemeinen auf
die Artikel Recht und Rechtsgesetz, Gesetzgebung,
Autonomie verweisen zu dürfen.
Daß jene Juristen, welchen Recht nur den In-
begriff der von der Staatsgewalt für erzwingbar
Kirchenrecht.
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erklärten Normen bedeutet, konsequenterweise wie
die Selbständigkeit des Kirchenrechts, so auch die
Existenz eines gemeinen Kirchenrechts
leugnen, ist bereits hervorgehoben worden. Die
Auffassung, für welche es nur ein staatliches und
ein autonomes Kirchenrecht gibt, während sie der
vom Staate nicht geschützten kirchlichen Norm den
Charakter des Rechts bestreitet, ist nur eine Folge
des Grundirrtums, daß die Existenz einer Rechts-
ordnung den Staat und seine Zwangsgewalt vor-
aussetze. Diese Auffassung steht, wie oben aus-
geführt wurde, im Widerspruche mit dem Wesen
und der Geschichte des Christentums wie mit dem
Dogma der katholischen Kirche, welche in ihrer
Rechtsordnung nicht bloß eine grundsätzlich selb-
ständige, sondern auch eine in ihren Grundlagen
göttliche Institution erkennt. Ist aber das Kirchen-
recht die selbständige Lebensordnung einer vom
Staate wesentlich verschiedenen sittlichen Gemein-
schaft, die Rechtsordnung der einen und allge-
meinen Anstalt christlicher Gottesverehrung, dann
kann auch die Existenz eines gemeinen Kirchen-
rechts nicht weiter bestritten werden. Die katholische
Kirche ist ein einheitlich organisierter religiöser
Verband, welcher die über den ganzen Erdball
zerstreuten Glieder der Kirche zu einer juristischen
Einheit zusammenfaßt, in der eine gemeinsame
rechtsetzende kirchliche Autorität anerkannt wird.
Diese ist der Träger der einheitlichen Rechts-
bildung, diese verleiht der die gesamte Kirche be-
herrschenden Rechtsordnung ihre formelle Geltung,
ihre verpflichtende Kraft.
Die weltumfassende Mission der Kirche fordert
für diese eine Rechtsordnung, welche, auf der
unverrückbaren Grundlage des ius divinum
ruhend, doch der nötigen Beweglichkeit und Ent-
wicklungsfähigkeit nicht entbehrt, um der Mannig-
faltigkeit der politischen Zustände und Kultur-
verhältnisse der Völker, der gesamten zeitlich und
örtlich sehr verschiedenen Bedingungen für die
Wirksamkeit der Kirche Rechnung zu tragen. So
ergibt sich als dem Wesen und Berufe der Kirche
entsprechend sowohl die notwendige und geschicht-
lich bezeugte stetige Fortentwicklung und
Anderung ihres Rechts, wie die Zulässigkeit
partikulärer Bildungen, örtlicher Verschieden-
heit des Rechts. Das Partikularrecht hat jedoch
dem ius Commune gegenüber in der Kirche wesent-
lich nur eine untergeordnete Bedeutung; seine
Normen, welche ihre Entstehung und Geltung
der rechtsetzenden Autorität eines bestimmten
engeren kirchlichen Kreises verdanken, sollen die
allgemeinen kirchlichen Ordnungen den besondern
Verhältnissen der einzelnen Länder und Gebiete
anpassen, indem sie die Anwendung und Durch-
führung des grundsätzlich allgemeingültigen ius
commune sichern und dessen Lücken den örtlichen
Bedürfnissen entsprechend ergänzen (partikuläre
Rechtsbildung secundum bzw. praeter ius com-
mune). Daß aber etwa die Ordnung des kirch-
lichen Lebens grundsätzlich partikulär gestaltet, den