Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

215 
und Kanonisten, welche die Grundlehre der moder- 
nen Rechtswissenschaft, die Erkenntnis der geschicht- 
lichen Natur des Rechts („die historische Ansicht 
des Rechtslebens“), nicht würdigen, noch immer 
den Standpunkt des „Rechtspositivismus“ be- 
kämpfen zu müssen. Hier wird verkannt, daß es 
im Prinzip ebenso bedenklich ist, wenn man eine 
„spekulative“ Konstruktion der Grundlagen kirch- 
licher Rechtsordnung „aus der Natur der Kirche 
als äußerer Gesellschaft“ auch nur für zulässig 
erklärt, um den Nachweis zu erbringen, daß die 
von Christus eingesetzte Kirche und ihre göttliche 
Rechtsordnung dem allein vernunftgemäßen Ur- 
bilde einer Kirche und ihrer vollkommenen Ver- 
fassung entspreche. In der Ablehnung solcher 
grundsätzlich bedenklichen Konstruktionen sollte 
man sich durch deren (vermeintlichen) apologeti- 
schen Zweck nicht beirren lassen: das „natürliche 
Kirchenrecht“ der Aufklärung hat, indem es die 
Vernunft für seine Rechtsquelle erklärte, den Zu- 
stand als den idealen und einzig vernünftigen 
„erwiesen“, in welchem der Staat, die allein not- 
wendige Rechtsanstalt, die Kirche wie einen Privat- 
verein (wie einen „Klub“ oder eine „gelehrte 
Sozietät") behandelt. In der Zeit des sog. Kultur- 
kampfes wiederum versuchte eine „rechtsphilo- 
sophische" Darstellung, für welche aber die deutsche 
Rechtswissenschaft nicht verantwortlich ist, den 
„Beweis“, daß die (schon heute antiquierten) 
Kampfgesetze des preußischen Staates als „grund- 
sätzlich allgemeingültige“, „auf unveränderlichen 
Grundsätzen“ beruhende Normen angesehen werden 
müßten, weil sie allein in der „Natur“ des Ver- 
hältnisses von Staat und Kirche, „den allgemeinen 
Bedingungen, an welche das Zusammensein eines 
religiösen und eines politischen Gemeinwesens 
überall geknüpft ist“, begründet seien. (Für die 
hier bekämpfte Auffassung unter andern Ludwig 
Bendix, Kirche und Kirchenrecht 16, 85 f.) 
Die der Rechtswissenschaft allgemein geläufigen 
Einteilungen der Rechtsnormen: nach ihrer Quelle 
(ihrem Entstehungsgrunde) und nach dem Umfang 
ihres Geltungsgebiets, nach ihrem Verhältnisse zu 
den allgemeinen, die bestehende Rechtsordnung 
beherrschenden Prinzipien (zur Rechtskonsequenz, 
ratio juris), nach ihrem (zwingenden oder „nach- 
giebigen") Charakter, finden auch auf das Kirchen- 
recht Anwendung. Wir unterscheiden auch im 
Kirchenrecht Gesetzes= und Gewohnheitsrecht, ge- 
meines und partikuläres Recht, regelmäßiges und 
regelwidriges Recht (anomales, singuläres Recht, 
Privileg), zwingendes (absolutes) und „nach- 
giebiges“ Recht (ergänzendes, vermittelndes, hypo- 
thetisches Recht; herkömmlich wird es zumeist 
unpassend als dispositives Recht bezeichnet). Hin- 
sichtlich dieser Einteilungen des objektiven Rechts 
glauben wir darum den Leser im allgemeinen auf 
die Artikel Recht und Rechtsgesetz, Gesetzgebung, 
Autonomie verweisen zu dürfen. 
Daß jene Juristen, welchen Recht nur den In- 
begriff der von der Staatsgewalt für erzwingbar 
Kirchenrecht. 
  
216 
erklärten Normen bedeutet, konsequenterweise wie 
die Selbständigkeit des Kirchenrechts, so auch die 
Existenz eines gemeinen Kirchenrechts 
leugnen, ist bereits hervorgehoben worden. Die 
Auffassung, für welche es nur ein staatliches und 
ein autonomes Kirchenrecht gibt, während sie der 
vom Staate nicht geschützten kirchlichen Norm den 
Charakter des Rechts bestreitet, ist nur eine Folge 
des Grundirrtums, daß die Existenz einer Rechts- 
ordnung den Staat und seine Zwangsgewalt vor- 
aussetze. Diese Auffassung steht, wie oben aus- 
geführt wurde, im Widerspruche mit dem Wesen 
und der Geschichte des Christentums wie mit dem 
Dogma der katholischen Kirche, welche in ihrer 
Rechtsordnung nicht bloß eine grundsätzlich selb- 
ständige, sondern auch eine in ihren Grundlagen 
göttliche Institution erkennt. Ist aber das Kirchen- 
recht die selbständige Lebensordnung einer vom 
Staate wesentlich verschiedenen sittlichen Gemein- 
schaft, die Rechtsordnung der einen und allge- 
meinen Anstalt christlicher Gottesverehrung, dann 
kann auch die Existenz eines gemeinen Kirchen- 
rechts nicht weiter bestritten werden. Die katholische 
Kirche ist ein einheitlich organisierter religiöser 
Verband, welcher die über den ganzen Erdball 
zerstreuten Glieder der Kirche zu einer juristischen 
Einheit zusammenfaßt, in der eine gemeinsame 
rechtsetzende kirchliche Autorität anerkannt wird. 
Diese ist der Träger der einheitlichen Rechts- 
bildung, diese verleiht der die gesamte Kirche be- 
herrschenden Rechtsordnung ihre formelle Geltung, 
ihre verpflichtende Kraft. 
Die weltumfassende Mission der Kirche fordert 
für diese eine Rechtsordnung, welche, auf der 
unverrückbaren Grundlage des ius divinum 
ruhend, doch der nötigen Beweglichkeit und Ent- 
wicklungsfähigkeit nicht entbehrt, um der Mannig- 
faltigkeit der politischen Zustände und Kultur- 
verhältnisse der Völker, der gesamten zeitlich und 
örtlich sehr verschiedenen Bedingungen für die 
Wirksamkeit der Kirche Rechnung zu tragen. So 
ergibt sich als dem Wesen und Berufe der Kirche 
entsprechend sowohl die notwendige und geschicht- 
lich bezeugte stetige Fortentwicklung und 
Anderung ihres Rechts, wie die Zulässigkeit 
partikulärer Bildungen, örtlicher Verschieden- 
heit des Rechts. Das Partikularrecht hat jedoch 
dem ius Commune gegenüber in der Kirche wesent- 
lich nur eine untergeordnete Bedeutung; seine 
Normen, welche ihre Entstehung und Geltung 
der rechtsetzenden Autorität eines bestimmten 
engeren kirchlichen Kreises verdanken, sollen die 
allgemeinen kirchlichen Ordnungen den besondern 
Verhältnissen der einzelnen Länder und Gebiete 
anpassen, indem sie die Anwendung und Durch- 
führung des grundsätzlich allgemeingültigen ius 
commune sichern und dessen Lücken den örtlichen 
Bedürfnissen entsprechend ergänzen (partikuläre 
Rechtsbildung secundum bzw. praeter ius com- 
mune). Daß aber etwa die Ordnung des kirch- 
lichen Lebens grundsätzlich partikulär gestaltet, den
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.