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lokalen kirchlichen Autoritäten die Freiheit einer
prinzipiell selbständigen Rechtsbildung zuerkannt
würde, welche das von dem Organ der kirchlichen
Einheit entwickelte gemeine Recht auf eine subsi-
diäre, von der Willkür der lokalen Gewalten ab-
hängige Geltung beschränkte, wäre offenbar im
Widerspruche mit den in jure divino beruhenden
Grundlagen der Kirchenverfassung, ja gleichbe-
deutend mit einer Negation des der höchsten kirch-
lichen Autorität übertragenen Primates. Das
ius commune hat darum notwendig die Bedeu-
tung eines grundsätzlich allgemeingültigen, für alle
Teile und Glieder der Kirche verbindlichen Rechts;
sofern die Rücksicht auf die vornehmste und wesent-
liche Aufgabe der Kirche für die besondern Ver-
hältnisse mancher Gebiete die Zulassung einzelner
dem ius commune widerstreitenden Ausnahms-
normen begründen soll, muß doch immer der
höchsten kirchlichen Autorität das Urteil über die
Rationabilität solcher Ausnahmen vorbehalten
bleiben, und diese können ihr rechtliches An-
sehen, den Charakter rechtlicher Ordnungen nicht
im Widerspruche mit dieser Entscheidung be-
haupten.
Seit dem Ende des 16. Jahrh. kommt in sehr
verschiedenen Modifikationen die Einteilung des
Kirchenrechts in öffentliches (ius eccles.
publicum) und Priva kkirchenrecht (ius eccles.
privatum) vor, welche seit der Mitte des 18. Jahrh.
für eine Reihe von Darstellungen geradezu die
Grundlage ihres Systems bildete. Diese Unter-
scheidung ist mißverständlich und verwirrend; sie
verkennt das entscheidende Kriterium des öffent-
lichen Rechts und konfundiert die Begriffe „sub-
jektives Recht“ und „Privatrecht“, als ob jedes
Individualrecht, jede subjektive Berechtigung als
ein Privatrecht bezeichnet werden dürfte. Alle
kirchenrechtlichen Normen tragen für jeden, der
die Kirche anerkennt, wesentlich den Charakter an
sich, welchen wir im Gebiete des weltlichen Rechts
als das Kriterium des öffentlichen erklären. Die
Kirche, ihre Einrichtungen und Ordnungen sind
in ihr selbst und für die, welche ihrem Glauben
ergeben sind, wesentlich eine öffentliche Institution,
d. h. eine die Kirchenglieder zu einem Subijekte,
zu einem sittlichen Ganzen, verbindende und mit
Notwendigkeit beherrschende Anstalt des sittlichen
Gemeinlebens. Es gibt in der Kirche nur öffent-
liches Recht; der Begriff des Privatrechts ist dem
Gebiete der Kirche fremd. Die kirchlichen Rechte
der einzelnen können nach dem Wesen der Kirche,
dem ihre Rechtsordnung durchaus beherrschenden
Prinzip der Unterordnung des Individuellen
unter das Allgemeine, niemals die Natur von
Privatrechten haben.
Wenn behauptet wurde, in jeder Rechtsordnung
„einer unabhängigen Gesellschaft“, also auch im
Kirchenrecht, sei die Anerkennung von Privatrechten,
die Unterscheidung des öffentlichen und Privat-
rechts „naturgemäß und notwendig“, weil man
in jeder solchen Gesellschaft „die den einzelnen
Kirchenrecht.
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Mitgliedern um des Ganzen willen und für den
Zweck des Ganzen zukommenden Pflichten und
Rechte“ (Gebiet des öffentlichen Rechts) von den-
jenigen unterscheiden müsse, „die ihnen um ihrer
selbst willen und zum Zwecke ihrer eigenen per-
sönlichen Befriedigung zukommen“ (Gebiet des
Privatrechts), so läßt diese Deduktion, welche
durchaus in der oben gerügten Manier der An-
hänger des „Vernunftrechts“ verfährt, den Be-
weis vermissen, daß der angeblich naturgemäße
und vernunftnotwendige Gegensatz von öffent-
lichem und Privatrecht auch in der Kirche wirk-
lich bestehe, daß es in der Kirche Rechte der ein-
zelnen geben könne, welche ihnen wie Privatrechte
„um ihrer selbst willen und zum Zwecke ihrer
eigenen persönlichen Befriedigung“ eingeräumt
sind, welche wie Privatrechte der Willkür der
Parteien, der beliebigen Disposition des einzelnen
unterworfen sind. Alles kirchliche Recht steht ja
in Beziehung zu jenem höchsten Ziele, welches der
Kirche und den Individuen gemeinsam ist; Zwecke
und diesen dienende Gerechtsame, welche wie
Privatrechte in den Interessen des Individuums
aufgehen und deshalb gänzlich der Willkür des
einzelnen anheimfallen dürfen, können nicht kirch-
liche sein. Soweit das Kirchenrecht (wie dies ja
auch im Staatsrecht vorkommt) überhaupt einer
Disposition des einzelnen Raum gibt und diesen
nicht absolut zwingendem Rechte unterwirft, ist
die ihm eingeräumte Diepositionsbefugnis nur
eine Folge der für die kirchliche Organisation maß-
gebenden Grundsätze und nicht etwa Konsequenz
der Rücksicht auf „seine persönliche Befriedigung“,
sein subjektives Belieben und Interesse.
Die kirchlichen Rechte der einzelnen, die im
Kirchenrechte wurzelnden subjektiven Berechti-
gungen können darum niemals als Privatrechte
bezeichnet werden; sie stehen (und gerade „diese
zweiseitige Zweckbeziehung des Rechtsverhältnisses
auf das Gemeinwesen“ gilt ja im Gebiete des
weltlichen Rechts als das Kriterium der publi-
zistischen, öffentlich-rechtlichen, Natur eines Ver-
hältnisses; s. Wach, Handbuch des deutschen Zivil-
prozeßrechts 1 94) dem einzelnen nicht als solchem
(als Person oder Rechtssubjekt schlechthin), son-
dern sie stehen ihm immer nur als Glied der
kirchlichen Gemeinschaft gegenüber der letzteren als
Gesamtheit zu; kirchliche Rechtsverhältnisse, Rechte
und Pflichten der einzelnen sind nur möglich,
weil und soweit der einzelne als Glied des kirch-
lichen Gemeinwesens von dessen Zwecken ergriffen
wird. Alle im Gebiete der Kirche bestehenden
Individualrechte, alle kirchlichen Rechte der ein-
zelnen finden notwendig in den Rücksichten der
öffentlichen kirchlichen Ordnung und des von der
kirchlichen Verwaltung zu wahrenden kirchlichen
Gemeininteresses ihr Ziel und ihre Schranke.
(Aus der Literatur über diese Frage vgl. besonders
Jacobson, Kirchenrechtl. Versuche, 2. Beitrag,
S. 43 f, insbesondere 71f79, 96, 125; Stahl,
Rechtsphilosophie II, 1, § 45, S. 301; Vering