Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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von Geschichte und Dogmatik im Kirchenrecht“, 
deren „reinliche Scheidung“ nach dem Vorbilde 
der heutigen Wissenschaft des deutschen Rechts 
durchgeführt werden soll. (In seiner Darstellung 
des Kirchenrechts für die Neubearbeitung der 
Holtzendorffschen Enzyklopädie der Rechtswissen- 
schaft (6., der Neubearbeit. 1. Aufl., 811—972 
wird im ersten Teile die Geschichte des Kirchen- 
rechts, im zweiten Teile das „System des Kirchen- 
rechts“ behandelt und damit die bisherige „Unter- 
ordnung der Geschichte unter das System des 
geltenden Rechts“ aufgegeben.) 
III. Weltgeschichtliche Bedentung. Nach- 
dem das Christentum den engherzigen Partikula- 
rismus des antiken Staatslebens überwunden 
hatte, waren für die christlichen Nationen des 
Mittelalters, welche sich als Glieder eines größeren 
Ganzen, der christlichen Staatengemeinschaft, be- 
trachteten, die Voraussetzungen der Entstehungeines 
Völkerrechts gegeben. Die politische Supre- 
matie des Papsttums in dieser christlichen Staaten- 
gemeinschaft konnte wohl nicht auf die Dauer be- 
hauptet werden; die grundsätzliche Anerkennung 
der Existenz rechtlicher Normen im Völkerverkehr 
bedeutet jedoch ein bleibendes Vermächtnis dieser 
internationalen Stellung des Papstiums, welche 
ihm nach der Idee einer christlichen Universal- 
monarchie zukommt. Indem die Päpste neube- 
gründeten Reichen und Staatsveränderungen, 
welche den Träger der höchsten Staatsgewalt be- 
treffen, die rechtliche Anerkennung gewähren, in 
den Streitigkeiten der Staaten und Fürsten das 
Richteramt üben, indem sie Gesetze ausstellen, 
welche die christlichen Staaten verpflichten, die 
Rechte fremder Staatsangehöriger zu achten (Ver- 
bot des Seeraubes wie des Strandrechts), und die 
Grausamkeit des Krieges, dessen verheerende Wir- 
kungen mildern sollen (Verbot Innozenz' III., 
sich im Kriege der ballistarül et sagittarü zu 
bedienen), schufen sie den Boden für die Entwick- 
lung des modernen Völkerrechts, dessen Grund- 
lage das allgemeine Rechtsbewußtsein der Kultur- 
nationen, d. h. die Tatsache bildet, daß die Kultur- 
staaten die Notwendigkeit einer Rechtsordnung des 
Völkerverkehrs anerkennen. 
Der Amterorganismus der Hierarchie war das 
Vorbild für den Beamtenstaat der Neuzeit. 
Jedes Amt gilt der Kirche als eine im öffentlichen 
Interesse geschaffene Berufsstellung, welche ihrem 
Träger nicht etwa bloß Rechte gewährt, die er 
gleich Privatrechten zu seinem Nutzen und Vorteil 
ausübt (wie dies der mißbräuchlichen, im verfallen- 
den Lehnsstaate des Mittelalters vorherrschenden 
patrimonialen Auffassung entspricht). Das Amt 
ist ein Inbegriff von Rechten und Pflichten; für 
die Verwaltung der Amtsrechte wie für die Er- 
füllung der Pflichten darf nur das öffentliche In- 
teresse entscheidend sein; jede Beeinträchtigung 
desselben läßt den Amtsträger verantwortlich er- 
scheinen. Den Rechten des Amtsträgers sichert 
jedoch die Kirche, wie den in ihrem Gebiete be- 
Kirchenrecht. 
  
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stehenden Individualrechten überhaupt, einen ge- 
ordneten prozessualischen Rechtsschutz; sie gewährt 
dem Amtsträger rechtliche Garantien gegen jede 
Beeinträchtigung und Entziehung seiner Amts- 
stellung, die nur aus den im Gesetze bestimmten 
Gründen im Wege eines geordneten (dem Be- 
schuldigten rechtliches Gehör und die Möglichkeit 
seiner Verteidigung verbürgenden) Verfahrens er- 
folgen darf. Wenn die Kirche für Rechte und 
Befugnisse publizistischer Natur allgemein den 
prozessualen Rechtsschutz und so den Beteiligten 
die Möglichkeit gewährte, ihre Ansprüche in einem 
geordneten rechtlichen Verfahren zu vertreten, 
wenn sie den Beteiligten hier als eine voll- 
berechtigte Partei, nicht bloß als ein Objekt der 
Verwaltung behandelte, so darf ihr auch, wie 
Hinschius mit Recht hervorhebt, die Anerkennung 
nicht verweigert werden, daß sie „liberaler“ war 
als die meisten modernen Staaten, welche bis in 
die jüngste Zeit Ansprüchen publizistischer Natur 
einen vom Ermessen der Verwaltung unabhängigen 
Rechtsschutz verweigerten. 
Nicht genug kann auch der Einfluß gewürdigt 
werden, welchen die Kirche auf die Entwicklung 
der Strafrechtspflege geübt hat. Es ist dem 
kanonischen Rechte zu danken, wenn der Grund- 
satz anerkannt wurde, daß das öffentliche Interesse 
die Verfolgung der Verbrechen verlange, und 
daß die Sühne der verletzten Rechtsordnung ohne 
Rücksicht auf das Verhalten des verletzten ein- 
zelnen gesichert werden müsse. Die Strafe ist 
nicht bloß ein Mittel, dem Verletzten seine Ge- 
nugtuung zu verschaffen: das öffentliche Interesse 
der Strafverfolgung verlangt ein Verfahren, 
welches die Tätigkeit des Richters unabhängig 
macht von dem Auftreten eines Anklägers und 
die Erforschung der Wahrheit, die Bestrafung des 
Verbrechens als eine unbedingte amtliche Pflicht 
des Richters behandelt. Während das germanische 
Recht bei der Festsetzung der Strafe die Berück- 
sichtigung des verbrecherischen Willens vermissen 
läßt und die Strafe nach dem äußern Erfolge 
der Übeltat wie eine Abzahlung des vom Ver- 
brecher angerichteten Schadens taxiert, betont die 
Kirche das innerliche Moment des Grades der 
Verschuldung, der größeren oder geringeren Sträf- 
lichkeit des Willens. Die Strafe, welche die Kirche 
verhängt, soll ferner nicht bloß dem Vergeltungs- 
zwecke entsprechen, dem Gesetze Genugtuung 
schaffen, sondern auch die Besserung des Übel- 
täters bewirken; die Kirche hat zuerst ein System 
von Strafen aufgestellt, für welche der Besserungs- 
zweck der vorwiegende ist, und damit ein neues, 
humanes Prinzip im Gebiete der Strafrechtspflege 
eingebürgert. Das kanonische Strafrecht verwirk- 
lichte ferner zuerst den Grundsatz der Gleichheit 
vor dem Gesetze (welcher dem römischen Rechte 
ebenso fremd war wie dem germanischen) und läßt 
in der Strafrechtspflege kein Ansehen der Person 
gelten. Das kirchliche Asylrecht bot den Verfolgten 
Schutz gegen die Grausamkeiten der Privatrache
	        
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