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von Geschichte und Dogmatik im Kirchenrecht“,
deren „reinliche Scheidung“ nach dem Vorbilde
der heutigen Wissenschaft des deutschen Rechts
durchgeführt werden soll. (In seiner Darstellung
des Kirchenrechts für die Neubearbeitung der
Holtzendorffschen Enzyklopädie der Rechtswissen-
schaft (6., der Neubearbeit. 1. Aufl., 811—972
wird im ersten Teile die Geschichte des Kirchen-
rechts, im zweiten Teile das „System des Kirchen-
rechts“ behandelt und damit die bisherige „Unter-
ordnung der Geschichte unter das System des
geltenden Rechts“ aufgegeben.)
III. Weltgeschichtliche Bedentung. Nach-
dem das Christentum den engherzigen Partikula-
rismus des antiken Staatslebens überwunden
hatte, waren für die christlichen Nationen des
Mittelalters, welche sich als Glieder eines größeren
Ganzen, der christlichen Staatengemeinschaft, be-
trachteten, die Voraussetzungen der Entstehungeines
Völkerrechts gegeben. Die politische Supre-
matie des Papsttums in dieser christlichen Staaten-
gemeinschaft konnte wohl nicht auf die Dauer be-
hauptet werden; die grundsätzliche Anerkennung
der Existenz rechtlicher Normen im Völkerverkehr
bedeutet jedoch ein bleibendes Vermächtnis dieser
internationalen Stellung des Papstiums, welche
ihm nach der Idee einer christlichen Universal-
monarchie zukommt. Indem die Päpste neube-
gründeten Reichen und Staatsveränderungen,
welche den Träger der höchsten Staatsgewalt be-
treffen, die rechtliche Anerkennung gewähren, in
den Streitigkeiten der Staaten und Fürsten das
Richteramt üben, indem sie Gesetze ausstellen,
welche die christlichen Staaten verpflichten, die
Rechte fremder Staatsangehöriger zu achten (Ver-
bot des Seeraubes wie des Strandrechts), und die
Grausamkeit des Krieges, dessen verheerende Wir-
kungen mildern sollen (Verbot Innozenz' III.,
sich im Kriege der ballistarül et sagittarü zu
bedienen), schufen sie den Boden für die Entwick-
lung des modernen Völkerrechts, dessen Grund-
lage das allgemeine Rechtsbewußtsein der Kultur-
nationen, d. h. die Tatsache bildet, daß die Kultur-
staaten die Notwendigkeit einer Rechtsordnung des
Völkerverkehrs anerkennen.
Der Amterorganismus der Hierarchie war das
Vorbild für den Beamtenstaat der Neuzeit.
Jedes Amt gilt der Kirche als eine im öffentlichen
Interesse geschaffene Berufsstellung, welche ihrem
Träger nicht etwa bloß Rechte gewährt, die er
gleich Privatrechten zu seinem Nutzen und Vorteil
ausübt (wie dies der mißbräuchlichen, im verfallen-
den Lehnsstaate des Mittelalters vorherrschenden
patrimonialen Auffassung entspricht). Das Amt
ist ein Inbegriff von Rechten und Pflichten; für
die Verwaltung der Amtsrechte wie für die Er-
füllung der Pflichten darf nur das öffentliche In-
teresse entscheidend sein; jede Beeinträchtigung
desselben läßt den Amtsträger verantwortlich er-
scheinen. Den Rechten des Amtsträgers sichert
jedoch die Kirche, wie den in ihrem Gebiete be-
Kirchenrecht.
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stehenden Individualrechten überhaupt, einen ge-
ordneten prozessualischen Rechtsschutz; sie gewährt
dem Amtsträger rechtliche Garantien gegen jede
Beeinträchtigung und Entziehung seiner Amts-
stellung, die nur aus den im Gesetze bestimmten
Gründen im Wege eines geordneten (dem Be-
schuldigten rechtliches Gehör und die Möglichkeit
seiner Verteidigung verbürgenden) Verfahrens er-
folgen darf. Wenn die Kirche für Rechte und
Befugnisse publizistischer Natur allgemein den
prozessualen Rechtsschutz und so den Beteiligten
die Möglichkeit gewährte, ihre Ansprüche in einem
geordneten rechtlichen Verfahren zu vertreten,
wenn sie den Beteiligten hier als eine voll-
berechtigte Partei, nicht bloß als ein Objekt der
Verwaltung behandelte, so darf ihr auch, wie
Hinschius mit Recht hervorhebt, die Anerkennung
nicht verweigert werden, daß sie „liberaler“ war
als die meisten modernen Staaten, welche bis in
die jüngste Zeit Ansprüchen publizistischer Natur
einen vom Ermessen der Verwaltung unabhängigen
Rechtsschutz verweigerten.
Nicht genug kann auch der Einfluß gewürdigt
werden, welchen die Kirche auf die Entwicklung
der Strafrechtspflege geübt hat. Es ist dem
kanonischen Rechte zu danken, wenn der Grund-
satz anerkannt wurde, daß das öffentliche Interesse
die Verfolgung der Verbrechen verlange, und
daß die Sühne der verletzten Rechtsordnung ohne
Rücksicht auf das Verhalten des verletzten ein-
zelnen gesichert werden müsse. Die Strafe ist
nicht bloß ein Mittel, dem Verletzten seine Ge-
nugtuung zu verschaffen: das öffentliche Interesse
der Strafverfolgung verlangt ein Verfahren,
welches die Tätigkeit des Richters unabhängig
macht von dem Auftreten eines Anklägers und
die Erforschung der Wahrheit, die Bestrafung des
Verbrechens als eine unbedingte amtliche Pflicht
des Richters behandelt. Während das germanische
Recht bei der Festsetzung der Strafe die Berück-
sichtigung des verbrecherischen Willens vermissen
läßt und die Strafe nach dem äußern Erfolge
der Übeltat wie eine Abzahlung des vom Ver-
brecher angerichteten Schadens taxiert, betont die
Kirche das innerliche Moment des Grades der
Verschuldung, der größeren oder geringeren Sträf-
lichkeit des Willens. Die Strafe, welche die Kirche
verhängt, soll ferner nicht bloß dem Vergeltungs-
zwecke entsprechen, dem Gesetze Genugtuung
schaffen, sondern auch die Besserung des Übel-
täters bewirken; die Kirche hat zuerst ein System
von Strafen aufgestellt, für welche der Besserungs-
zweck der vorwiegende ist, und damit ein neues,
humanes Prinzip im Gebiete der Strafrechtspflege
eingebürgert. Das kanonische Strafrecht verwirk-
lichte ferner zuerst den Grundsatz der Gleichheit
vor dem Gesetze (welcher dem römischen Rechte
ebenso fremd war wie dem germanischen) und läßt
in der Strafrechtspflege kein Ansehen der Person
gelten. Das kirchliche Asylrecht bot den Verfolgten
Schutz gegen die Grausamkeiten der Privatrache