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und Fehde; die Lehre der Kirche, das Beispiel
ihrer Strafrechtspflege und das Asylrecht waren
dafür bestimmend, daß auch die weltliche Straf-
justiz den Forderungen der Humanität in weiterem
Umfange Rechnung trug und die Anwendung der
Todesstrafe wie der verstümmelnden Strafen be-
schränkte. Ebenso ist es vorwiegend dem Einflusse
des kanonischen Rechts zu danken, wenn der Grund-
satz, daß das Beweisverfahren die Aufgabe habe,
die Glaubwürdigkeit des Behauptenden darzu-
tun, mit allen mißbräuchlichen Konsequenzen
dieses Prinzips (Gottesurteile, Eideshelfer usw.)
beseitigt und ein Beweisrecht eingeführt wurde,
welches die Erforschung der materiellen Wahrheit
nicht mehr dem Formalismus opfert.
Es ist bereits oben darauf hingewiesen worden,
daß bei dem Mangel eines seine Verwaltungs-
aufgaben erfüllenden Staatswesens die Kirche des
Mittelalters den Schutz vitaler Interessen der Ge-
sellschaftsordnung und Kulturentwicklung über-
nehmen mußte, daß sie als der „einzige Staat"“
(Roßhirt) jener Epoche ihre Zuständigkeit auf ein
Gebiet erweiterte, welches nach unserer Auffassung
der Syphäre der staatlichen Gesetzgebung und welt-
lichen Gerichtsbarkeit anheimfällt. Die Kompe=
tenz der geistlichen Gerichte in weltlichen Prozessen
erklärt die Anwendung des kanonischen Rechts,
dessen Bestimmungen über Fragen des Privat=
rechts und Prozesses vor allem den ethischen
Standpunkt der Kirche gegenüber den Grund-
sätzen des römischen wie des germanischen Rechts
wahren sollen, aber auch eine dem Fortschritte der
Kulturentwicklung, den geänderten wirtschaftlichen
und sozialen Verhältnissen entsprechende Umbil-
dung des Rechts vermitteln. Die Rezeption der
fremden Rechte hat dem kanonischen Rechte auch
in den weltlichen Gerichten Ansehen und Geltung
gesichert. Obwohl die Reformbestrebungen unserer
Zeit die Traditionen des römisch-kanonischen Pro-
zesses aufgegeben und den modernen Bedürfnissen
entsprechend das Verfahren auf andern Grund-
lagen aufgebaut haben, so wird doch kaum je-
mand bestreiten wollen, daß gerade die Rezeption
jenes Prozesses, welchen die italienische Doktrin
und Praxis seit dem 13. Jahrh. im Anschluß an
das Dekretalenrecht entwickelt hatte (trotz der
Schwerfälligkeit und der sonstigen unleugbaren
Mängel dieses gemeinen Prozesses), für Deutsch-
land von der größten Bedeutung und den wohl-
tätigsten Konsequenzen war. Die Umwälzung der
wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, welche
sich in der Zeit des ausgehenden Mittelalters voll-
zog, ließ die Übelstände jenes in den weltlichen
Gerichten vor der Rezeption herrschenden „heil-
losen“ Verfahrens, das eine rationelle Rechts-
pflege unmöglich machte und dessen Formalismus
alle Rechtssicherheit in Frage stellte, um so mehr
empfinden. Nicht minder wird eine unbefangene
Würdigung des Einflusses, welchen das kanonische
Recht auf die Umbildung des Privatrechts
geübt hat, man mag das ethische oder das wirt-
Staatslexikon. III. 3. Aufl.
Kirchenrecht.
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schaftliche Moment bei der Beurteilung in den
Vordergrund treten lassen, immer zu dem Resul-
tate gelangen müssen, daß das kanonische Recht
für jene Epoche der Träger einer bedeutsamen
fortschrittlichen Entwicklung gewesen ist, ein Ver-
dienst, welches eine gesunde geschichtliche Auf-
fassung nicht etwa deshalb in Abrede stellen wird,
weil einzelne Sätze desselben den veränderten wirt-
schaftlichen Verhältnissen und Rechtsanschauungen
der modernen Zeit gegenüber ihre Geltung nicht
mehr behaupten können. (In dem engen Rahmen,
welcher unserer Darstellung vorgezeichnet ist,
können die Modifikationen, welche das Privatrecht
unter dem Einflusse der Kirche und ihrer Gesetz-
gebung erfahren hat, hier nicht im einzelnen be-
sprochen werden. Wir verweisen nur auf die Er-
weiterung des Besitzesschutzes, auf die Rechtsvor-
schrift, welche die Fortdauer des guten Glaubens
während der ganzen Ersitzungszeit fordert, ja die
Wirkungen der Verjährung überhaupt nur im
Falle fortdauernder bona fides eintreten lassen
will, auf die Klagbarkeit der durch einfache, form-
los erklärte Willensübereinstimmung geschlossenen
obligatorischen Verträge, welche im Gegensatze zum
römischen wie zum germanischen Recht anerkannt
wurde, usw.)
Literatur. Lehr= u. Handbücher des K.s (die
mit bezeichneten sind von Autoren protestantischen
Bekenntnisses verfaßt): G. Phillips, K. (7 Bde,
1845/72, nicht vollendet — Fortsetzung (VIII, 1,
1889] von Vering); ders., Lehrb. des K.S# (21871,
3. Aufl. von Moufang, 1881); J. F. v. Schulte,
Das kath. K. (2 Bde, 1856/60); derf., Lehrb. des
kath. u. evang. K.3 (4. Aufl. des kathol., 1. Aufl.
des evang. 1886); P. Hinschius, Das K. der
Katholiken u. Protestanten in Deutschland: Sy-
stem des kath. K.s mit besonderer Rücksicht auf
Deutschland (6 Bde, 1869/97 — unvollendet); 2.
L. Richter, Lehrb. des kath. u. evang. K.8 (zu-
erst 1842, 8. Aufl. von R. Dove u. W. Kahl,
1877/86); E. Friedberg, Lehrb. des kath. u. evang.
K.s (61909); F. H. Vering, Lehrb. des kath.,
oriental. u. protest. K.s (31893); Rud. v. Scherer,
Handb. des K.s (I/II, 1885/98); H. Lämmer, In-
stitutionen des kath. K.#s (21892 — mit besonderer
Rücksicht auf das preuß. K., insbesondere das Par-
tikularrecht der Diözese Breslau); S. Aichner, Com-
pendium iuris eccl. (101905, hrsg. von Friedle —
mit besonderer Berücksichtigung des österr. Parti-
kulorrechts, in erster Reihe für den österr. Seel-
sorgeklerus bestimmt); F. Heiner, Kath. K. (2 Bde,
21904/05; neue Aufl. im Erscheinen); K. Groß,
Lehrb. des kath. K.S (51907; nach dem Manufkript
des Verf. besorgt von P. A. Leder); -W. Kahl,
Lehrsystem des K.8 u. der Kirchenpolitik 1 (Einl. u.
allgemeiner Teil, 1894); F. X. Wernz, lus decre-
talium (I/III Rom 21905/08, IV ebd. 11904);
J. B. Sägmüller, Lehrb. des kath. K.3 (21909).
Für das Corpus iuris canonici ist durch die
offizielle römische Ausgabe (Romae, in aedibus
opuli Romani 1582) ein verbindlicher Legaltext
Ehesstellt worden, welcher bei der Auslegung u.
Anwendung der Stellen, denen noch Gesetzeskraft
zukommt, ausschließlich maßgebend sein muß u.
in diesem Sinne auch gegenüber den kritischen
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