Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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und Fehde; die Lehre der Kirche, das Beispiel 
ihrer Strafrechtspflege und das Asylrecht waren 
dafür bestimmend, daß auch die weltliche Straf- 
justiz den Forderungen der Humanität in weiterem 
Umfange Rechnung trug und die Anwendung der 
Todesstrafe wie der verstümmelnden Strafen be- 
schränkte. Ebenso ist es vorwiegend dem Einflusse 
des kanonischen Rechts zu danken, wenn der Grund- 
satz, daß das Beweisverfahren die Aufgabe habe, 
die Glaubwürdigkeit des Behauptenden darzu- 
tun, mit allen mißbräuchlichen Konsequenzen 
dieses Prinzips (Gottesurteile, Eideshelfer usw.) 
beseitigt und ein Beweisrecht eingeführt wurde, 
welches die Erforschung der materiellen Wahrheit 
nicht mehr dem Formalismus opfert. 
Es ist bereits oben darauf hingewiesen worden, 
daß bei dem Mangel eines seine Verwaltungs- 
aufgaben erfüllenden Staatswesens die Kirche des 
Mittelalters den Schutz vitaler Interessen der Ge- 
sellschaftsordnung und Kulturentwicklung über- 
nehmen mußte, daß sie als der „einzige Staat"“ 
(Roßhirt) jener Epoche ihre Zuständigkeit auf ein 
Gebiet erweiterte, welches nach unserer Auffassung 
der Syphäre der staatlichen Gesetzgebung und welt- 
lichen Gerichtsbarkeit anheimfällt. Die Kompe= 
tenz der geistlichen Gerichte in weltlichen Prozessen 
erklärt die Anwendung des kanonischen Rechts, 
dessen Bestimmungen über Fragen des Privat= 
rechts und Prozesses vor allem den ethischen 
Standpunkt der Kirche gegenüber den Grund- 
sätzen des römischen wie des germanischen Rechts 
wahren sollen, aber auch eine dem Fortschritte der 
Kulturentwicklung, den geänderten wirtschaftlichen 
und sozialen Verhältnissen entsprechende Umbil- 
dung des Rechts vermitteln. Die Rezeption der 
fremden Rechte hat dem kanonischen Rechte auch 
in den weltlichen Gerichten Ansehen und Geltung 
gesichert. Obwohl die Reformbestrebungen unserer 
Zeit die Traditionen des römisch-kanonischen Pro- 
zesses aufgegeben und den modernen Bedürfnissen 
entsprechend das Verfahren auf andern Grund- 
lagen aufgebaut haben, so wird doch kaum je- 
mand bestreiten wollen, daß gerade die Rezeption 
jenes Prozesses, welchen die italienische Doktrin 
und Praxis seit dem 13. Jahrh. im Anschluß an 
das Dekretalenrecht entwickelt hatte (trotz der 
Schwerfälligkeit und der sonstigen unleugbaren 
Mängel dieses gemeinen Prozesses), für Deutsch- 
land von der größten Bedeutung und den wohl- 
tätigsten Konsequenzen war. Die Umwälzung der 
wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, welche 
sich in der Zeit des ausgehenden Mittelalters voll- 
zog, ließ die Übelstände jenes in den weltlichen 
Gerichten vor der Rezeption herrschenden „heil- 
losen“ Verfahrens, das eine rationelle Rechts- 
pflege unmöglich machte und dessen Formalismus 
alle Rechtssicherheit in Frage stellte, um so mehr 
empfinden. Nicht minder wird eine unbefangene 
Würdigung des Einflusses, welchen das kanonische 
Recht auf die Umbildung des Privatrechts 
geübt hat, man mag das ethische oder das wirt- 
Staatslexikon. III. 3. Aufl. 
Kirchenrecht. 
  
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schaftliche Moment bei der Beurteilung in den 
Vordergrund treten lassen, immer zu dem Resul- 
tate gelangen müssen, daß das kanonische Recht 
für jene Epoche der Träger einer bedeutsamen 
fortschrittlichen Entwicklung gewesen ist, ein Ver- 
dienst, welches eine gesunde geschichtliche Auf- 
fassung nicht etwa deshalb in Abrede stellen wird, 
weil einzelne Sätze desselben den veränderten wirt- 
schaftlichen Verhältnissen und Rechtsanschauungen 
der modernen Zeit gegenüber ihre Geltung nicht 
mehr behaupten können. (In dem engen Rahmen, 
welcher unserer Darstellung vorgezeichnet ist, 
können die Modifikationen, welche das Privatrecht 
unter dem Einflusse der Kirche und ihrer Gesetz- 
gebung erfahren hat, hier nicht im einzelnen be- 
sprochen werden. Wir verweisen nur auf die Er- 
weiterung des Besitzesschutzes, auf die Rechtsvor- 
schrift, welche die Fortdauer des guten Glaubens 
während der ganzen Ersitzungszeit fordert, ja die 
Wirkungen der Verjährung überhaupt nur im 
Falle fortdauernder bona fides eintreten lassen 
will, auf die Klagbarkeit der durch einfache, form- 
los erklärte Willensübereinstimmung geschlossenen 
obligatorischen Verträge, welche im Gegensatze zum 
römischen wie zum germanischen Recht anerkannt 
wurde, usw.) 
Literatur. Lehr= u. Handbücher des K.s (die 
mit bezeichneten sind von Autoren protestantischen 
Bekenntnisses verfaßt): G. Phillips, K. (7 Bde, 
1845/72, nicht vollendet — Fortsetzung (VIII, 1, 
1889] von Vering); ders., Lehrb. des K.S# (21871, 
3. Aufl. von Moufang, 1881); J. F. v. Schulte, 
Das kath. K. (2 Bde, 1856/60); derf., Lehrb. des 
kath. u. evang. K.3 (4. Aufl. des kathol., 1. Aufl. 
des evang. 1886); P. Hinschius, Das K. der 
Katholiken u. Protestanten in Deutschland: Sy- 
stem des kath. K.s mit besonderer Rücksicht auf 
Deutschland (6 Bde, 1869/97 — unvollendet); 2. 
L. Richter, Lehrb. des kath. u. evang. K.8 (zu- 
erst 1842, 8. Aufl. von R. Dove u. W. Kahl, 
1877/86); E. Friedberg, Lehrb. des kath. u. evang. 
K.s (61909); F. H. Vering, Lehrb. des kath., 
oriental. u. protest. K.s (31893); Rud. v. Scherer, 
Handb. des K.s (I/II, 1885/98); H. Lämmer, In- 
stitutionen des kath. K.#s (21892 — mit besonderer 
Rücksicht auf das preuß. K., insbesondere das Par- 
tikularrecht der Diözese Breslau); S. Aichner, Com- 
pendium iuris eccl. (101905, hrsg. von Friedle — 
mit besonderer Berücksichtigung des österr. Parti- 
kulorrechts, in erster Reihe für den österr. Seel- 
sorgeklerus bestimmt); F. Heiner, Kath. K. (2 Bde, 
21904/05; neue Aufl. im Erscheinen); K. Groß, 
Lehrb. des kath. K.S (51907; nach dem Manufkript 
des Verf. besorgt von P. A. Leder); -W. Kahl, 
Lehrsystem des K.8 u. der Kirchenpolitik 1 (Einl. u. 
allgemeiner Teil, 1894); F. X. Wernz, lus decre- 
talium (I/III Rom 21905/08, IV ebd. 11904); 
J. B. Sägmüller, Lehrb. des kath. K.3 (21909). 
Für das Corpus iuris canonici ist durch die 
offizielle römische Ausgabe (Romae, in aedibus 
opuli Romani 1582) ein verbindlicher Legaltext 
Ehesstellt worden, welcher bei der Auslegung u. 
Anwendung der Stellen, denen noch Gesetzeskraft 
zukommt, ausschließlich maßgebend sein muß u. 
in diesem Sinne auch gegenüber den kritischen 
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