Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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gekostet hat, besteht ein gemischtes System. Im 
Budget metropolitain finden sich für das Mutter- 
land unter dem Titel Kriegsministerium und beim 
Kolonialministerium große Ausgabenpositionen; 
dazu kommen in den Budgets locauz der Einzel- 
kolonien noch Ausgaben, die die Kolonie selbst zu 
bestreiten hat. Algier hat seit 1900 eigne Budget- 
verwaltung. Frankreich ist in jüngster Zeit bestrebt, 
die einzelnen Kolonien finanziell selbständig zu 
machen, gibt ihnen auch das Recht, selbständig 
Schulden aufzunehmen, was namentlich für Eisen- 
bahnanlagen reichlich benutzt wird. Holland ver- 
waltet die Kolonien vom Mutterlande aus in 
finanzieller Beziehung, hat aber je nach dem Stande 
des ewigen atschinesischen Krieges mehr oder minder 
hohe Zuschüsse zu leisten. 
Es wäre nun noch eine Reihe von weiteren 
Fragen, des Münzwesens, des Bankwesens, der 
Arbeiterbeschaffung aus fremden Ländern sowie 
des Kolonialtruppensystems zu behandeln. So- 
weit diese Fragen Deutschland betreffen, werden 
sie im folgenden Abschnitt besprochen werden. Be- 
züglich der übrigen Kolonien kann von Erörte-= 
rung dieser weniger wichtigen Probleme abgesehen 
werden. 
Kurz sei noch die Frage der Missionen be- 
handelt. Portugal und Spanien haben die Ein- 
gebornen ihrer Kolonien zum Teil sogar mit 
Gewalt zu Christen gemacht. Dadurch wurde die 
Verschmelzung der Eingebornen mit Angehörigen 
des Mutterlandes ermöglicht (Mulatten, Mestizen), 
und so ist in den alten amerikanischen Kolonien 
Spaniens und Portugals ein sozial dem Europäer 
im allgemeinen gleichstehender Eingebornenstand 
entstanden, dessen geistige Entwicklung allerdings 
nicht genügend gepflegt ist. 
Wie weit es in dieser Beziehung christliche Ein- 
geborne bringen können, hat die Geschichte des 
Jesuitenstaates Paraguay bewiesen, den neidische 
Nachbarn leider zu früh zerstört haben. England 
hat in seinen Kolonien die Missionstätigkeit nicht 
gefördert, hat ihr aber auch keine Hindernisse in 
den Weg gelegt und den Missionen stets volle 
Freiheit gelassen. Holland hat in seinen Kolonien 
das Prinzip gehabt, sich nicht in die Verhältnisse 
der Eingebornen zu mischen. Es hat deshalb die 
Missionen zwar nicht formell, aber doch tatsächlich 
im Laufe der Zeit in der Missionstätigkeit behindert, 
so daß von dessen 38 Mill. Eingebornen nur stark 
½⅛ Mill. christlich sind. Frankreich endlich hat 
sowohl bei dem System der Assimilation als 
der Assoziation die Missionstätigkeit als ein er- 
hebliches Mittel zur Erziehung der Eingebornen 
betrachtet und die Missionstätigkeit jederzeit ge- 
fördert und fördert sie noch heute, trotzdem es im 
eignen Mutterlande die Kirche befehdet. So sind 
z. B. die Eingebornen sämtlicher amerikanischer 
Kolonien seit langer Zeit Christen. Der Kongo- 
staat befolgt das französische System und gibt 
sogar jeder Station unentgeltlich einen erheblichen 
Grundbesitz. 
Kolonien ufw. 
  
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V. Kokonialpolitik des Deutschen Reichs. 
Zagend ist die Reichsregierung an die Gründung 
von Kolonien herangetreten, und zagend hat man 
überhaupt Kolonialpolitik getrieben. Bismarck 
wollte nur den Schutz des Reiches ohne Bildung 
einer Kolonialtruppe gewähren, daher auch jetzt 
noch die maßgebende amtliche Bezeichnung der 
deutschen Kolonien als Schutzgebiete, trotzdemlängst 
alle Kolonien in der vollen staatlichen Gewalt des 
Reichs stehen. Die Hoheitsrechte und die Er- 
schließung der Kolonien sollte durch Kolonial- 
gesellschaften erfolgen. Die Gründung der ersten 
englischen Charteredkolonie schwebte den maß- 
gebenden Kreisen als Beispiel vor trotz des Fias- 
kos, welches die Chartered Company's im Laufe 
der Zeit gemacht haben. Diese zagende, tastende 
Politik des Deutschen Reichs ist dann auch 
der Grund gewesen, daß die deutsche Kolonial= 
politik nicht auf Lorbeeren zurückblicken kann, daß 
eine Reihe schwerer Fehler begangen wurde, und 
daß die wirtschaftliche Erschließung eigentlich erst 
im 20. Jahrh. begonnen hat. Wäre nicht die 
„Deutsche Kolonialgesellschaft“ (gegründet 1882) 
unter der energischen Leitung ihres Präsidenten 
Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg ge- 
wesen, wären nicht die deutschen Hansestädte 
durch Gründung von Schiffahrtslinien nach den 
deutschen Kolonien helfend eingesprungen, um die 
Interessen des Handels zu schützen, wären nicht 
im Interesse der Christianisierung der Heiden die 
Missionsgesellschaften eingetreten, dann würde der 
koloniale Gedanke in Deutschland allmählich in 
Vergessenheit gekommen sein. Vielleicht hätte die 
Cobdensche Idee, daß die Kolonien ein Hemmnis 
für die Volksentwicklung seien, in Deutschland An- 
klang und Billigung gefunden, so wenig tief war 
das koloniale Verständnis in das Volk selbst einge- 
drungen. Die Kriege des 20. Jahrh., diechinesischen 
Wirren, der japanisch-russische Krieg, namentlich 
aber der südwestafrikanische Aufstand mit der Epi- 
sode der Reichstagsauflösung haben das Inter- 
esse des deutschen Volkes an dem Kolonialbesitze 
gehoben. Und so ist vor allem durch die ener- 
gische Leitung des jetzigen Staatssekretärs des 
Reichskolonialamts Dernburg an Stelle der zagen- 
den eine intensive Erschließungspolitik getreten, 
durch welche die Fehler der Vorzeit teilweise wieder 
ausgeglichen werden und eine zielbewußte Kolo- 
nialpolitik ermöglicht wird. Dadurch werden die 
bei Erwerb der Schutzgebiete gehegten Hoffnungen 
des deutschen Volkes, die Ansiedlung Deutscher 
in den deutschen Kolonien, die Vergrößerung des 
deutschen Handels und die Christianisierung der 
Heiden, wenigstens zum Teil erfüllt. 
Wir haben oben die Aufschließung der Kolo- 
nien durch Eisenbahnen für die erste Grund- 
bedingung einer guten Kolonialpolitik erklärt. 
Die deutschen Kolonien haben erst sehr spät Eisen- 
bahnen erhalten, und zwar die erste nicht durch 
freiwilligen Entschluß der Reichsregierung, sondern 
hervorgerufen durch die Not. Die Rinderpest
	        
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