351
ziehung einzelner Gegenstände androhen kann.
Endlich ist noch einer Eigentümlichkeit des kolo-
nialen Strafrechts zu gedenken, welche die Voll-
streckung der Todesstrafe betrifft. Das R.St.G.B.
schreibt die Enthauptung vor. Der Kaiser, den
das Sch.G.G. ermächtigt hatte, an ihrer Stelle
eine andere, eine Schärfung nicht enthaltende Art
der Vollstreckung anzuordnen, hat bestimmt, daß
die Todesstrafe nach der jeweiligen Entscheidung
des Gouverneurs durch Enthaupten, Erschießen
oder Erhängen zu vollstrecken ist.
Das Prozeßrecht der kolonialen Weißenrechts-
pflege zeigt sowohl im Gerichtsverfassungs= als
auch im Verfahrensrecht erhebliche Abweichungen
vom heimischen Recht.
Die Gerichtsverfassung umfaßt richterliche und
nicht richterliche Rechtspflegeorgane. Die Person
der Richter betrifft es, daß, wie bereits im Kolo-
nialverwaltungsrecht gezeigt wurde, das mutter-
ländische Prinzip der Trennung von Justiz und
Verwaltung noch nicht überall hat durchgeführt
werden können. Die persönliche Stellung der
Richter ist ferner in den Kolonien deshalb eine
andere als im Mutterland, weil nur im Kolonial-=
disziplinarrecht ein ganz unentwickelter Ansatz
zu dem im Mutterlande grundlegenden und voll
ausgestalteten Prinzip der richterlichen Unab-
hängigkeit vorhanden ist. Er ist allerdings ledig-
lich auf die Berufsrichter berechnet, d. h. auf Ober=
richter und Bezirksrichter (in Kiautschou Kaiserliche
Richter). Neben den Berufsrichtern gibt es Laien-
richter. Berufsrichter und Laienrichter sind sowohl
in erster als auch in zweiter Instanz tätig. In
beiden Instanzen fungieren Berufsrichter als
Einzelrichter sowie Kollegialgerichte, die aus einem
Berufsrichter als Vorsitzenden und Laienbeisitzern
bestehen. Außerdem kommt auch noch eine erst-
und gleichzeitig letztinstanzliche Zuständigkeit des
Reichsgerichts in Betracht.
In erster Instanz ist Einzelrichter der Bezirks-
richter, an dessen Stelle in Kiautschou einer der
dortigen „Kaiserlichen Richter“ steht. Die Zu-
ständigkeit des Bezirksrichters bzw. des Kaiser-
lichen Richters entspricht zunächst der Zuständigkeit
des heimischen Amtsrichters. Außerdem ist der
Bezirksrichter auch zuständig für die Strafsachen,
die nach dem mutterländischen Recht Schöffensachen
oder dem Schöffengericht überweisbare Sachen
(6J75 G.V. G.) oder ausschließlich vor die Straf-
kammer des Landgerichts gehörige Sachen sind
(§74 G.V. G.). Dieses gilt jedoch nicht für den
Kaiserlichen Richter in Kiautschou.
Kollegialgericht erster Instanz ist einmal das
aus dem Bezirksrichter als Vorsitzenden und zwei
oder vier Laienbeisitzern bestehende Bezirksgericht
bzw. in Kiautschou das aus dem Kaiserlichen Richter
als Vorsitzenden und zwei oder vier Laienbeisitzern
zusammengesetzte „Kaiserliche Gericht von Kiau-
tschon“, zweitens das Obergericht, welches aus
dem Oberrichter als Vorsitzenden und vier Bei-
sitzern besteht, drittens das Reichsgericht. Das
Kolonialrecht.
352
mit zwei Beisitzern besetzte, also das „kleine“ Be-
zirksgericht bzw. Kaiserliche Gericht von Kiautschon
ist zuständig für die im Mutterlande den Zivil-
kammern der Landgerichte überwiesenen Sachen.
Insoweit in solchen Sachen die Zuziehung von
zwei Beisitzern nicht ausführbar ist, tritt an die
Stelle des kollegialen Bezirksgerichts bzw. des
Kaiserlichen Gerichts von Kiautschou der Bezirks-
richter bzw. der Kaiserliche Richter als Einzelrichter.
In Kiautschou gehören zur Kompetenz des kleinen
Kaiserlichen Gerichts von Kiautschou auch die
Schöffensachen, Schöffenüberweisungssachen (875
G.V. G.) und die nach § 74 G.V.G. ausschließ-
lich der Strafkammer des Landgerichts zugeteilten
Sachen, für die in den übrigen Kolonien der Be-
zirksrichter als Einzelrichter zuständig ist.
Das mit vier Beisitzern besetzte, also das „große“
kollegiale Bezirksgericht bzw. das „große“ Kaiser-
liche Gericht von Kiautschou entscheidet in den im
Mutterlande vor die Strafkammer gehörigen Sa-
chen mit Ausnahme der ebengenannten, ihr aus-
schließlich zugeteilten Sachen. Ebenso sind diese Ge-
richte kompetent für die Schwurgerichtssachen. Mit
andern Worten, die schwereren Strafsachen sind
ihnen überwiesen. Wenn die Zuziehung von vier
Beisitzern nicht möglich ist, sind zwei hinreichend.
Das Obergericht ist erste und letzte Instanz
für die Entschädigungsansprüche der im Wieder-
aufnahmeverfahren freigesprochenen sowie der-
jenigen Personen, die unschuldig eine Unter-
suchungshaft erlitten haben, also für Ansprüche,
über die im Mutterlande in erster und letzter In-
stanz das Reichsgericht zu befinden hat.
Dagegen ist die Meinung irrig, daß das Ober-
gericht auch für Hoch= und Landesverrat gegen
Kaiser und Reich zuständig geworden sei. Für
solche Sachen hat es vielmehr bei der mutter-
ländischen erst= und letztinstanzlichen Zuständig-
keit des Reichsgerichts sein Bewenden.
Als zweite Instanz fungieren erstens das kol-
legiale kleine Bezirksgericht bzw. Kaiserliche Ge-
richt, zweitens der Oberrichter als Einzelrichter
und drittens das kollegiale Obergericht. Das
kleine Bezirksgericht bzw. Kaiserliche Gericht be-
findet über Beschwerden gegen Entscheidungen des
Bezirksrichters bzw. Kaiserlichen Richters in Straf-
sachen, ebenso der Oberrichter über Beschwerden
gegen Entscheidungen desselben Richters in Zivil-
sachen. Das Obergericht aber hat als zweite
Instanz zu erkennen über Beschwerden und Be-
rufungen gegen Entscheidungen des Bezirksgerichts
bzw. Kaiserlichen Gerichts in Zivilsachen sowohl
wie in Strafsachen, mögen das nun Entschei-
dungen des kleinen oder des großen Bezirks-
gerichts bzw. Kaiserlichen Gerichts sein.
Ein eignes Obergericht hat jetzt jede Kolonie
mit Ausnahme von Togo, für welches das Ober-
gericht von Kamerun zuständig ist. Eine dritte
Instanz, die mit Recht vielfach gewünscht ist, hat
man bisher, vorzugsweise aus finanziellen Grün-
den, noch nicht eingerichtet.