Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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ziehung einzelner Gegenstände androhen kann. 
Endlich ist noch einer Eigentümlichkeit des kolo- 
nialen Strafrechts zu gedenken, welche die Voll- 
streckung der Todesstrafe betrifft. Das R.St.G.B. 
schreibt die Enthauptung vor. Der Kaiser, den 
das Sch.G.G. ermächtigt hatte, an ihrer Stelle 
eine andere, eine Schärfung nicht enthaltende Art 
der Vollstreckung anzuordnen, hat bestimmt, daß 
die Todesstrafe nach der jeweiligen Entscheidung 
des Gouverneurs durch Enthaupten, Erschießen 
oder Erhängen zu vollstrecken ist. 
Das Prozeßrecht der kolonialen Weißenrechts- 
pflege zeigt sowohl im Gerichtsverfassungs= als 
auch im Verfahrensrecht erhebliche Abweichungen 
vom heimischen Recht. 
Die Gerichtsverfassung umfaßt richterliche und 
nicht richterliche Rechtspflegeorgane. Die Person 
der Richter betrifft es, daß, wie bereits im Kolo- 
nialverwaltungsrecht gezeigt wurde, das mutter- 
ländische Prinzip der Trennung von Justiz und 
Verwaltung noch nicht überall hat durchgeführt 
werden können. Die persönliche Stellung der 
Richter ist ferner in den Kolonien deshalb eine 
andere als im Mutterland, weil nur im Kolonial-= 
disziplinarrecht ein ganz unentwickelter Ansatz 
zu dem im Mutterlande grundlegenden und voll 
ausgestalteten Prinzip der richterlichen Unab- 
hängigkeit vorhanden ist. Er ist allerdings ledig- 
lich auf die Berufsrichter berechnet, d. h. auf Ober= 
richter und Bezirksrichter (in Kiautschou Kaiserliche 
Richter). Neben den Berufsrichtern gibt es Laien- 
richter. Berufsrichter und Laienrichter sind sowohl 
in erster als auch in zweiter Instanz tätig. In 
beiden Instanzen fungieren Berufsrichter als 
Einzelrichter sowie Kollegialgerichte, die aus einem 
Berufsrichter als Vorsitzenden und Laienbeisitzern 
bestehen. Außerdem kommt auch noch eine erst- 
und gleichzeitig letztinstanzliche Zuständigkeit des 
Reichsgerichts in Betracht. 
In erster Instanz ist Einzelrichter der Bezirks- 
richter, an dessen Stelle in Kiautschou einer der 
dortigen „Kaiserlichen Richter“ steht. Die Zu- 
ständigkeit des Bezirksrichters bzw. des Kaiser- 
lichen Richters entspricht zunächst der Zuständigkeit 
des heimischen Amtsrichters. Außerdem ist der 
Bezirksrichter auch zuständig für die Strafsachen, 
die nach dem mutterländischen Recht Schöffensachen 
oder dem Schöffengericht überweisbare Sachen 
(6J75 G.V. G.) oder ausschließlich vor die Straf- 
kammer des Landgerichts gehörige Sachen sind 
(§74 G.V. G.). Dieses gilt jedoch nicht für den 
Kaiserlichen Richter in Kiautschou. 
Kollegialgericht erster Instanz ist einmal das 
aus dem Bezirksrichter als Vorsitzenden und zwei 
oder vier Laienbeisitzern bestehende Bezirksgericht 
bzw. in Kiautschou das aus dem Kaiserlichen Richter 
als Vorsitzenden und zwei oder vier Laienbeisitzern 
zusammengesetzte „Kaiserliche Gericht von Kiau- 
tschon“, zweitens das Obergericht, welches aus 
dem Oberrichter als Vorsitzenden und vier Bei- 
sitzern besteht, drittens das Reichsgericht. Das 
Kolonialrecht. 
  
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mit zwei Beisitzern besetzte, also das „kleine“ Be- 
zirksgericht bzw. Kaiserliche Gericht von Kiautschon 
ist zuständig für die im Mutterlande den Zivil- 
kammern der Landgerichte überwiesenen Sachen. 
Insoweit in solchen Sachen die Zuziehung von 
zwei Beisitzern nicht ausführbar ist, tritt an die 
Stelle des kollegialen Bezirksgerichts bzw. des 
Kaiserlichen Gerichts von Kiautschou der Bezirks- 
richter bzw. der Kaiserliche Richter als Einzelrichter. 
In Kiautschou gehören zur Kompetenz des kleinen 
Kaiserlichen Gerichts von Kiautschou auch die 
Schöffensachen, Schöffenüberweisungssachen (875 
G.V. G.) und die nach § 74 G.V.G. ausschließ- 
lich der Strafkammer des Landgerichts zugeteilten 
Sachen, für die in den übrigen Kolonien der Be- 
zirksrichter als Einzelrichter zuständig ist. 
Das mit vier Beisitzern besetzte, also das „große“ 
kollegiale Bezirksgericht bzw. das „große“ Kaiser- 
liche Gericht von Kiautschou entscheidet in den im 
Mutterlande vor die Strafkammer gehörigen Sa- 
chen mit Ausnahme der ebengenannten, ihr aus- 
schließlich zugeteilten Sachen. Ebenso sind diese Ge- 
richte kompetent für die Schwurgerichtssachen. Mit 
andern Worten, die schwereren Strafsachen sind 
ihnen überwiesen. Wenn die Zuziehung von vier 
Beisitzern nicht möglich ist, sind zwei hinreichend. 
Das Obergericht ist erste und letzte Instanz 
für die Entschädigungsansprüche der im Wieder- 
aufnahmeverfahren freigesprochenen sowie der- 
jenigen Personen, die unschuldig eine Unter- 
suchungshaft erlitten haben, also für Ansprüche, 
über die im Mutterlande in erster und letzter In- 
stanz das Reichsgericht zu befinden hat. 
Dagegen ist die Meinung irrig, daß das Ober- 
gericht auch für Hoch= und Landesverrat gegen 
Kaiser und Reich zuständig geworden sei. Für 
solche Sachen hat es vielmehr bei der mutter- 
ländischen erst= und letztinstanzlichen Zuständig- 
keit des Reichsgerichts sein Bewenden. 
Als zweite Instanz fungieren erstens das kol- 
legiale kleine Bezirksgericht bzw. Kaiserliche Ge- 
richt, zweitens der Oberrichter als Einzelrichter 
und drittens das kollegiale Obergericht. Das 
kleine Bezirksgericht bzw. Kaiserliche Gericht be- 
findet über Beschwerden gegen Entscheidungen des 
Bezirksrichters bzw. Kaiserlichen Richters in Straf- 
sachen, ebenso der Oberrichter über Beschwerden 
gegen Entscheidungen desselben Richters in Zivil- 
sachen. Das Obergericht aber hat als zweite 
Instanz zu erkennen über Beschwerden und Be- 
rufungen gegen Entscheidungen des Bezirksgerichts 
bzw. Kaiserlichen Gerichts in Zivilsachen sowohl 
wie in Strafsachen, mögen das nun Entschei- 
dungen des kleinen oder des großen Bezirks- 
gerichts bzw. Kaiserlichen Gerichts sein. 
Ein eignes Obergericht hat jetzt jede Kolonie 
mit Ausnahme von Togo, für welches das Ober- 
gericht von Kamerun zuständig ist. Eine dritte 
Instanz, die mit Recht vielfach gewünscht ist, hat 
man bisher, vorzugsweise aus finanziellen Grün- 
den, noch nicht eingerichtet.
	        
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