Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Als nicht richterliche Organe finden sich in der 
Gerichtsverfassung der Weißenrechtspflege Ge- 
richtschreiber, Vollstreckungsbeamte, Staatsan- 
wälte, Rechtsanwälte und Notare. 
Dos koloniale Verfahrensrecht ist zu scheiden 
nach Zivilverfahren und Strafverfahren. Das 
Zivilverfahren umfaßt den Zivilprozeß im engeren 
Sinne nebst Zwangsvollstreckung, die General- 
zwangsvollstreckung, d. h. den Konkurs, und die 
freiwillige Gerichtsbarkeit. 
Der koloniale Zivilprozeß bestimmt sich in allen 
Instanzen nach den Vorschriften über das heimische 
Verfahren vor den Amtsgerichten. Während aber 
vor diesen das im außeramtsgerichtlichen Prozeß 
statthafte vorbereitende Verfahren in Rechnungs- 
sachen, Auseinandersetzungen und ähnlichen Pro- 
zessen unzulässig ist, kann es im kolonialen Zivil- 
prozeß zur Anwendung kommen. Die Mitwirkung 
der Staatsanwaltschaft in Ehesachen ist in den 
Kolonien begrenzter als im Mutterlande. Auch 
kennt das koloniale Zivilprozeßrecht keinen An- 
waltszwang. Rechtsmittel läßt es nur Platz grei- 
sen, wenn der Wert des Streitgegenstandes 300 M 
übersteigt. Ist sofortige Beschwerde gegen eine 
Entscheidung des erstinstanzlichen Einzelrichters 
eingelegt, so kann dieser die Entscheidung nicht 
bloß wie im Mutterlande, wenn sie eine Kosten- 
festsetzung betrifft, sondern in allen Fällen selbst 
abändern. 
Die Zwangsvollstreckung in Zivilsachen ist in 
den Kolonien wie im Mutterlande verschieden, 
je nachdem sie Mobiliar= oder Immobiliar= 
zwangsvollstreckung ist. Auf beiden Gebieten be- 
gegnen im Kolonialrecht Abweichungen vom mut- 
terländischen Recht. 
Die Generalzwangsvollstreckung, der Konkurs, 
unterscheidet sich nur durch verlängerte Fristen 
vom mutterländischen Konkursprozeß. 
Was schließlich die freiwillige Gerichtsbarkeit 
anlangt, so kann nach dem bezüglichen Reichs- 
gesetz der auf diesem Gebiet tätige Richter eine 
von ihm erlassene, mit sofortiger Beschwerde an- 
fechtbare und angefochtene Verfügung nicht selbst 
abändern. Nach Kolonialrecht ist er dazu befugt. 
Außerdem ist dafür gesorgt, daß für gerichtliche, 
übrigens aber auch für notarielle Beurkundung 
von Rechtsgeschäften mit Ausnahme der Ver- 
fügungen von Todes wegen ein einfacheres Ver- 
fahren als das mutterländische durch kaiserliche 
Verordnung vorgeschrieben werden kann. 
Der koloniale Strafprozeß entbehrt bei Über- 
tretungen gänzlich, bei Vergehen und Verbrechen 
bis zur Hauptverhandlung erster Instanz der Mit- 
wirkung einer Staatsanwaltschaft. Insoweit bleibt 
also die mutterländische Akkusationsmaxime außer 
Anwendung, herrscht vielmehr die Inquisitions- 
maxime. Dabei hat aber das mutterländische Offi= 
zialprinzip Geltung. Demgemäß ist der Bezirks- 
richter, in Kiautschon der Kaiserliche Richter, wenn 
er Kenntnis erhält von dem Verdachte einer straf- 
baren Handlung, die zu seiner Zuständigkeit oder 
Staatslexikon. III. 3. Aufl. 
Kolonialrecht. 
  
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zur Zuständigkeit des kleinen oder großen erst- 
instanzlichen Kollegialgerichts gehört, von Amts 
wegen zum Einschreiten berufen. Er hat ins- 
besondere die nach dem mutterländischen Straf- 
prozeßrecht im vorbereitenden Verfahren der 
Staatsanwaltschaft obliegenden Ermittlungen an- 
zustellen. Die vom mutterländischen Recht für 
wichtigere Sachen angeordnete besondere gericht- 
liche Voruntersuchung erschien dieserhalb einst- 
weilen noch als unnötig, wenn auch vorgesehen 
ist, daß sie durch kaiserliche Verordnung eingeführt 
werden kann. Da in den Kolonien das ganze 
Vorverfahren in der Hond des Bezirksrichters 
liegt und insbesondere das vorbereitende Ver- 
fahren nicht von einer Staatsanwaltschaft be- 
trieben wird, so kann daselbst natürlich auch nicht, 
wie im Mutterlande, das vorbereitende Verfahren 
durch eine von der Staatsanwaltschaft erhobene 
öffentliche Klage abgeschlossen werden. An die 
Stelle einer solchen nach der Strafprozeßordnung 
entweder durch Antrag auf gerichtliche Vorunter- 
suchung oder durch Einreichung einer Anyklage- 
schrift bei Gericht erhobenen öffentlichen Klage 
tritt nach Kolonialrecht in Fällen, in welchen so- 
fort, d. h. ohne weiteres Vorverfahren, das Haupt- 
verfahren eröffnet werden kann, der Beschluß, 
durch den das Hauptverfahren eröffnet wird, da- 
gegen in Fällen, in welchen ein Vorverfahren 
erforderlich ist, die Verfügung des Bezirksrichters 
über die Einleitung des Strafverfahrens. Letzteren- 
falls bedarf es natürlich, wenn es zur Haupt- 
verhandlung kommen soll, eines das Vorverfahren 
abschließenden Beschlusses über die Eröffnung des 
Hauptverfahrens. Für die Hauptverhandlung gilt 
allgemein das im Mutterlande nur für die Ver- 
handlungen vor den Schöffengerichten und für die 
Berufungsverhandlungen in Ubertretungs= und 
Privatklagesachen geltende Prinzip, daß das Ge- 
richt den Umfang der Beweisaufnahme bestimmt, 
ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere 
Beschlüsse gebunden zu sein. 
Bezüglich der Rechtsmittel gilt im Mutterlande 
die Bestimmung, daß das Gericht seine durch so- 
fortige Beschwerde angefochtene Entscheidung nicht 
selbst abändern kann. Der koloniale erstinstanz- 
liche Einzelrichter kann seine derartig angefochtenen 
Entscheidungen nicht minder wie seine durch ein- 
fache Beschwerde angefochtenen Entscheidungen 
abändern. 
Eine der wichtigsten Abweichungen des kolo- 
nialen Strafprozesses vom mutterländischen Straf- 
prozeß ist, daß die Berufung, wenn man absieht 
von den mit keinem Rechtsmittel ausgestatteten 
Ülbertretungssachen, in allen Sachen stattfindet, 
auch in den daheim vor die Strafkammern oder 
Schwurgerichte gehörigen Sachen. 
Die nach mutterländischem Recht der Staats- 
anwaltschaft zustehenden Rechtsmittel können gegen 
die Entscheidungen des erstinstanzlichen Kollegial- 
gerichtes von dem erstinstanzlichen Einzelrichter 
eingelegt werden, soweit nicht die Einlegung von 
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