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Als nicht richterliche Organe finden sich in der
Gerichtsverfassung der Weißenrechtspflege Ge-
richtschreiber, Vollstreckungsbeamte, Staatsan-
wälte, Rechtsanwälte und Notare.
Dos koloniale Verfahrensrecht ist zu scheiden
nach Zivilverfahren und Strafverfahren. Das
Zivilverfahren umfaßt den Zivilprozeß im engeren
Sinne nebst Zwangsvollstreckung, die General-
zwangsvollstreckung, d. h. den Konkurs, und die
freiwillige Gerichtsbarkeit.
Der koloniale Zivilprozeß bestimmt sich in allen
Instanzen nach den Vorschriften über das heimische
Verfahren vor den Amtsgerichten. Während aber
vor diesen das im außeramtsgerichtlichen Prozeß
statthafte vorbereitende Verfahren in Rechnungs-
sachen, Auseinandersetzungen und ähnlichen Pro-
zessen unzulässig ist, kann es im kolonialen Zivil-
prozeß zur Anwendung kommen. Die Mitwirkung
der Staatsanwaltschaft in Ehesachen ist in den
Kolonien begrenzter als im Mutterlande. Auch
kennt das koloniale Zivilprozeßrecht keinen An-
waltszwang. Rechtsmittel läßt es nur Platz grei-
sen, wenn der Wert des Streitgegenstandes 300 M
übersteigt. Ist sofortige Beschwerde gegen eine
Entscheidung des erstinstanzlichen Einzelrichters
eingelegt, so kann dieser die Entscheidung nicht
bloß wie im Mutterlande, wenn sie eine Kosten-
festsetzung betrifft, sondern in allen Fällen selbst
abändern.
Die Zwangsvollstreckung in Zivilsachen ist in
den Kolonien wie im Mutterlande verschieden,
je nachdem sie Mobiliar= oder Immobiliar=
zwangsvollstreckung ist. Auf beiden Gebieten be-
gegnen im Kolonialrecht Abweichungen vom mut-
terländischen Recht.
Die Generalzwangsvollstreckung, der Konkurs,
unterscheidet sich nur durch verlängerte Fristen
vom mutterländischen Konkursprozeß.
Was schließlich die freiwillige Gerichtsbarkeit
anlangt, so kann nach dem bezüglichen Reichs-
gesetz der auf diesem Gebiet tätige Richter eine
von ihm erlassene, mit sofortiger Beschwerde an-
fechtbare und angefochtene Verfügung nicht selbst
abändern. Nach Kolonialrecht ist er dazu befugt.
Außerdem ist dafür gesorgt, daß für gerichtliche,
übrigens aber auch für notarielle Beurkundung
von Rechtsgeschäften mit Ausnahme der Ver-
fügungen von Todes wegen ein einfacheres Ver-
fahren als das mutterländische durch kaiserliche
Verordnung vorgeschrieben werden kann.
Der koloniale Strafprozeß entbehrt bei Über-
tretungen gänzlich, bei Vergehen und Verbrechen
bis zur Hauptverhandlung erster Instanz der Mit-
wirkung einer Staatsanwaltschaft. Insoweit bleibt
also die mutterländische Akkusationsmaxime außer
Anwendung, herrscht vielmehr die Inquisitions-
maxime. Dabei hat aber das mutterländische Offi=
zialprinzip Geltung. Demgemäß ist der Bezirks-
richter, in Kiautschon der Kaiserliche Richter, wenn
er Kenntnis erhält von dem Verdachte einer straf-
baren Handlung, die zu seiner Zuständigkeit oder
Staatslexikon. III. 3. Aufl.
Kolonialrecht.
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zur Zuständigkeit des kleinen oder großen erst-
instanzlichen Kollegialgerichts gehört, von Amts
wegen zum Einschreiten berufen. Er hat ins-
besondere die nach dem mutterländischen Straf-
prozeßrecht im vorbereitenden Verfahren der
Staatsanwaltschaft obliegenden Ermittlungen an-
zustellen. Die vom mutterländischen Recht für
wichtigere Sachen angeordnete besondere gericht-
liche Voruntersuchung erschien dieserhalb einst-
weilen noch als unnötig, wenn auch vorgesehen
ist, daß sie durch kaiserliche Verordnung eingeführt
werden kann. Da in den Kolonien das ganze
Vorverfahren in der Hond des Bezirksrichters
liegt und insbesondere das vorbereitende Ver-
fahren nicht von einer Staatsanwaltschaft be-
trieben wird, so kann daselbst natürlich auch nicht,
wie im Mutterlande, das vorbereitende Verfahren
durch eine von der Staatsanwaltschaft erhobene
öffentliche Klage abgeschlossen werden. An die
Stelle einer solchen nach der Strafprozeßordnung
entweder durch Antrag auf gerichtliche Vorunter-
suchung oder durch Einreichung einer Anyklage-
schrift bei Gericht erhobenen öffentlichen Klage
tritt nach Kolonialrecht in Fällen, in welchen so-
fort, d. h. ohne weiteres Vorverfahren, das Haupt-
verfahren eröffnet werden kann, der Beschluß,
durch den das Hauptverfahren eröffnet wird, da-
gegen in Fällen, in welchen ein Vorverfahren
erforderlich ist, die Verfügung des Bezirksrichters
über die Einleitung des Strafverfahrens. Letzteren-
falls bedarf es natürlich, wenn es zur Haupt-
verhandlung kommen soll, eines das Vorverfahren
abschließenden Beschlusses über die Eröffnung des
Hauptverfahrens. Für die Hauptverhandlung gilt
allgemein das im Mutterlande nur für die Ver-
handlungen vor den Schöffengerichten und für die
Berufungsverhandlungen in Ubertretungs= und
Privatklagesachen geltende Prinzip, daß das Ge-
richt den Umfang der Beweisaufnahme bestimmt,
ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere
Beschlüsse gebunden zu sein.
Bezüglich der Rechtsmittel gilt im Mutterlande
die Bestimmung, daß das Gericht seine durch so-
fortige Beschwerde angefochtene Entscheidung nicht
selbst abändern kann. Der koloniale erstinstanz-
liche Einzelrichter kann seine derartig angefochtenen
Entscheidungen nicht minder wie seine durch ein-
fache Beschwerde angefochtenen Entscheidungen
abändern.
Eine der wichtigsten Abweichungen des kolo-
nialen Strafprozesses vom mutterländischen Straf-
prozeß ist, daß die Berufung, wenn man absieht
von den mit keinem Rechtsmittel ausgestatteten
Ülbertretungssachen, in allen Sachen stattfindet,
auch in den daheim vor die Strafkammern oder
Schwurgerichte gehörigen Sachen.
Die nach mutterländischem Recht der Staats-
anwaltschaft zustehenden Rechtsmittel können gegen
die Entscheidungen des erstinstanzlichen Kollegial-
gerichtes von dem erstinstanzlichen Einzelrichter
eingelegt werden, soweit nicht die Einlegung von
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