25
ist. Das Christentum verbietet eine Gleichsetzung
der lebendigen Arbeitskraft, der Persönlichkeit
des Arbeiters mit einer toten Ware, deren Wert
sich nach den Produktionskosten berechnet. Es
verlangt, daß die Rechte, die mit der Persönlich-
keit und der ewigen Bestimmung des Menschen
verbunden sind, auch dem Arbeiter vollauf ge-
wahrt werden usw.
Aber auch die einzelnen Glieder in der Ge-
dankenkette, mit der der Sozialismus gegen den
Kapitalismus operiert, erweisen sich als abstrakte
schematische Formeln, die an den realen Tat-
sachen keinen Halt finden. Die Mehrwerts-, die
Krisen= und Verelendungs-, die Zusammenbruchs-
theorie sowie die materialistische Geschichtsauf-
fassung halten einer kritischen Prüfung schwerlich
stand, so imponierend sie auch durch die Kühn-
heit ihrer Formulierung und durch die Bestätigung,
die sie in manchen Mißständen des modernen
Wirtschaftslebens finden, erscheinen mögen. Man
faßt die genannten Hypothesen gewöhnlich unter
dem Namen des Marxismus zusammen. An
ihrer Richtigkeit sind neuestens auch in den Kreisen
des Sozialismus nicht bloß starke Zweifel ge-
äußert worden, sondern kritische Köpfe, wie Eduard
Bernstein, haben scharfen Widerspruch dagegen er-
hoben. Es stellt sich mehr und mehr heraus, daß
es Übertreibungen und falsche Verallgemeinerungen
waren, in denen sich der Sozialismus bei seiner
Kritik des Kapitalismus gefiel. Die „sozialdemo-
kratischen Hauptsätze enthalten neben viel Rich-
tigem auch viele übertriebene Behauptungen und
voreilige Schlüsse. Zunächst ist der Sieg des
Großkapitals, den Marx verkündet, ganz sicher
nur in der Industrie zu erwarten, wo er übrigens
auch nicht entfernt so rasch sich zeigt, als man in
sozialdemokratischen Kreisen gewöhnlich annimmt.
In der Landwirtschaft dagegen kann von
einer Tendenz zum Vorherrschen der Latifundien-
wirtschaft keine Rede sein, wenigstens nicht auf
dem Kontinent. Diese sozialdemokratische Ansicht
ist so lange zu verwerfen, bis für sie ein ernst-
hafter Beweisversuch vorliegt. Daher kann auch
die Behauptung, daß der Mittelstand zugrunde
gehe, mindestens für die ländlichen Berufszweige
nicht gelten. Aber selbst für die Gewerbe kann
jene Folgerung nicht unbedingt zugegeben werden.
Denn wenn der alte Mittelstand zum Teil zu-
grunde geht, so bildet sich doch gleichzeitig immer
mehr ein neuer Mittelstand heraus. Die große
Masse der sog. höheren Angestellten in den kapi-
talistischen Unternehmungen (also Kommis, Ge-
schäftsreisende, Inspektoren, Techniker usw.) ferner
die große Klasse der selbständigen Elemente mit
mäßigem Einkommen im kapitalistischen Verkehre
(also Kommissare, Agenten usw.), dann die Klasse
der kleinen Kaufleute und Händler sowie die der
Wirte, endlich die Subalternbeamten, die in jedem
Lande des Kontinents ein ungeheures Heer aus-
machen. Schließlich muß noch darauf hingewiesen
werden, daß auch der alte Handwerkerstand nicht
Kapital usw.
26
gänzlich untergeht, sondern sich teilweise behaupten
kann, z. B. die Bäcker, Metzger, Barbiere, Schorn-
steinfeger“ (Adler, Sozialismus a. a. O. V 781).
Wird demnach die Behauptung einer bestän-
digen Konzentration des Kapitals durch die Bil-
dung eines neuen Mittelstandes widerlegt, so
sprechen die Tatsachen des Lebens ebenso laut
gegen die Behauptung einer steigenden Verelendung
des Proletariats. Gerade in England, dem ersten
Industriestaate, sind breitere Schichten des Ar-
beiterstandes zu einem höheren standard of life
emporgestiegen (vgl. v. Nostitz, Das Aufsteigen
des Arbeiterstandes in England (1900.). Die ge-
werkschaftlichen Organisationen der Arbeiter treten
bei Festsetzung der Arbeits= und Lohnbedingungen
den Unternehmern nicht bloß formell gleich be-
rechtigt, sondern vielfach tatsächlich gleich mächtig
gegenüber. Der Arbeitsvertrag ist vielfach der
privaten Abmachung zwischen dem einzelnen Ar-
beiter und dem Arbeitgeber entzogen und zur Sache
kollektiver Reglung gemacht.
Der Sozialismus betrachtet eben in seiner
Kritik der kapitalistischen Gesellschaft immer den
Kapitalismus in seiner „Reinheit“, d. h. in
schroffer Gegenüberstellung zu seinem glänzend
ausgemalten kommunistischen Ideal, und vergißt,
daß auch in der heutigen Gesellschaft noch Kräfte
vorhanden sind, welche den kapitalistischen Übel-
ständen, die in hohem Maße vorhanden sind, be-
gegnen. Zum Teil liegen im Kapitalismus selbst
Tendenzen, welche eine Besserung in der Lebens-
haltung der unteren Klassen begünstigen. Der tech-
nischen Entwicklung gelingt es, immer neue Wege
der Produktion zu finden und die Fülle der Güter
zu mehren. Daß dabei der Arbeiter einen immer
steigenden Anteil daran erlange, das bezwecken die
verschiedenen sozialreformatorischen Richtungen,
die auf Abstellung der mit dem Kapitalismus ge-
gebenen Mißstände abzielen. Es gilt eben, der
Herrschaft desselben feste Schranken zu setzen. Wir
stehen nicht auf dem Standpunkte, den der Natio-
nalökonom Julius Wolfin seinem Werke,„Sozialis-=
mus und kapitalistische Gesellschaftsordnung“ ver-
tritt, daß dem Kapitalismus selbst das Verdienst
zuzuschreiben sei, die reichere Bedürfnisbefriedigung
des Arbeiterstandes allein bewirkt zu haben, viel-
mehr mußte dem Kapitalismus manche sozial
wohltätige Reform in langem Kampfe förmlich
abgetrotzt und abgerungen werden. Aber gerade
das beweist, daß auch innerhalb der kapitalistischen
Welt sich Kräfte regen, welche den Tendenzen des
„reinen“ Kapitalismus entgegenarbeiten. Alle
Tatsachen der Statistik, bemerkt Adler (Die Zu-
kunft der sozialen Frage 12), beweisen unwider-
leglich, daß in der modernen bürgerlichen Gesell-
schaftsordnung immanente Wohlstandstendenzen
vorhanden sind, die sich stark genug erweisen, um
— in Verbindung mit den durch Selbst= oder
Staatshilfe geschaffenen Organisationen — die
ebenso unzweifelhaft vorhandenen Elendstendenzen
zu überwinden. „Mit einem geistreichen Wort