Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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ist. Das Christentum verbietet eine Gleichsetzung 
der lebendigen Arbeitskraft, der Persönlichkeit 
des Arbeiters mit einer toten Ware, deren Wert 
sich nach den Produktionskosten berechnet. Es 
verlangt, daß die Rechte, die mit der Persönlich- 
keit und der ewigen Bestimmung des Menschen 
verbunden sind, auch dem Arbeiter vollauf ge- 
wahrt werden usw. 
Aber auch die einzelnen Glieder in der Ge- 
dankenkette, mit der der Sozialismus gegen den 
Kapitalismus operiert, erweisen sich als abstrakte 
schematische Formeln, die an den realen Tat- 
sachen keinen Halt finden. Die Mehrwerts-, die 
Krisen= und Verelendungs-, die Zusammenbruchs- 
theorie sowie die materialistische Geschichtsauf- 
fassung halten einer kritischen Prüfung schwerlich 
stand, so imponierend sie auch durch die Kühn- 
heit ihrer Formulierung und durch die Bestätigung, 
die sie in manchen Mißständen des modernen 
Wirtschaftslebens finden, erscheinen mögen. Man 
faßt die genannten Hypothesen gewöhnlich unter 
dem Namen des Marxismus zusammen. An 
ihrer Richtigkeit sind neuestens auch in den Kreisen 
des Sozialismus nicht bloß starke Zweifel ge- 
äußert worden, sondern kritische Köpfe, wie Eduard 
Bernstein, haben scharfen Widerspruch dagegen er- 
hoben. Es stellt sich mehr und mehr heraus, daß 
es Übertreibungen und falsche Verallgemeinerungen 
waren, in denen sich der Sozialismus bei seiner 
Kritik des Kapitalismus gefiel. Die „sozialdemo- 
kratischen Hauptsätze enthalten neben viel Rich- 
tigem auch viele übertriebene Behauptungen und 
voreilige Schlüsse. Zunächst ist der Sieg des 
Großkapitals, den Marx verkündet, ganz sicher 
nur in der Industrie zu erwarten, wo er übrigens 
auch nicht entfernt so rasch sich zeigt, als man in 
sozialdemokratischen Kreisen gewöhnlich annimmt. 
In der Landwirtschaft dagegen kann von 
einer Tendenz zum Vorherrschen der Latifundien- 
wirtschaft keine Rede sein, wenigstens nicht auf 
dem Kontinent. Diese sozialdemokratische Ansicht 
ist so lange zu verwerfen, bis für sie ein ernst- 
hafter Beweisversuch vorliegt. Daher kann auch 
die Behauptung, daß der Mittelstand zugrunde 
gehe, mindestens für die ländlichen Berufszweige 
nicht gelten. Aber selbst für die Gewerbe kann 
jene Folgerung nicht unbedingt zugegeben werden. 
Denn wenn der alte Mittelstand zum Teil zu- 
grunde geht, so bildet sich doch gleichzeitig immer 
mehr ein neuer Mittelstand heraus. Die große 
Masse der sog. höheren Angestellten in den kapi- 
talistischen Unternehmungen (also Kommis, Ge- 
schäftsreisende, Inspektoren, Techniker usw.) ferner 
die große Klasse der selbständigen Elemente mit 
mäßigem Einkommen im kapitalistischen Verkehre 
(also Kommissare, Agenten usw.), dann die Klasse 
der kleinen Kaufleute und Händler sowie die der 
Wirte, endlich die Subalternbeamten, die in jedem 
Lande des Kontinents ein ungeheures Heer aus- 
machen. Schließlich muß noch darauf hingewiesen 
werden, daß auch der alte Handwerkerstand nicht 
Kapital usw. 
  
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gänzlich untergeht, sondern sich teilweise behaupten 
kann, z. B. die Bäcker, Metzger, Barbiere, Schorn- 
steinfeger“ (Adler, Sozialismus a. a. O. V 781). 
Wird demnach die Behauptung einer bestän- 
digen Konzentration des Kapitals durch die Bil- 
dung eines neuen Mittelstandes widerlegt, so 
sprechen die Tatsachen des Lebens ebenso laut 
gegen die Behauptung einer steigenden Verelendung 
des Proletariats. Gerade in England, dem ersten 
Industriestaate, sind breitere Schichten des Ar- 
beiterstandes zu einem höheren standard of life 
emporgestiegen (vgl. v. Nostitz, Das Aufsteigen 
des Arbeiterstandes in England (1900.). Die ge- 
werkschaftlichen Organisationen der Arbeiter treten 
bei Festsetzung der Arbeits= und Lohnbedingungen 
den Unternehmern nicht bloß formell gleich be- 
rechtigt, sondern vielfach tatsächlich gleich mächtig 
gegenüber. Der Arbeitsvertrag ist vielfach der 
privaten Abmachung zwischen dem einzelnen Ar- 
beiter und dem Arbeitgeber entzogen und zur Sache 
kollektiver Reglung gemacht. 
Der Sozialismus betrachtet eben in seiner 
Kritik der kapitalistischen Gesellschaft immer den 
Kapitalismus in seiner „Reinheit“, d. h. in 
schroffer Gegenüberstellung zu seinem glänzend 
ausgemalten kommunistischen Ideal, und vergißt, 
daß auch in der heutigen Gesellschaft noch Kräfte 
vorhanden sind, welche den kapitalistischen Übel- 
ständen, die in hohem Maße vorhanden sind, be- 
gegnen. Zum Teil liegen im Kapitalismus selbst 
Tendenzen, welche eine Besserung in der Lebens- 
haltung der unteren Klassen begünstigen. Der tech- 
nischen Entwicklung gelingt es, immer neue Wege 
der Produktion zu finden und die Fülle der Güter 
zu mehren. Daß dabei der Arbeiter einen immer 
steigenden Anteil daran erlange, das bezwecken die 
verschiedenen sozialreformatorischen Richtungen, 
die auf Abstellung der mit dem Kapitalismus ge- 
gebenen Mißstände abzielen. Es gilt eben, der 
Herrschaft desselben feste Schranken zu setzen. Wir 
stehen nicht auf dem Standpunkte, den der Natio- 
nalökonom Julius Wolfin seinem Werke,„Sozialis-= 
mus und kapitalistische Gesellschaftsordnung“ ver- 
tritt, daß dem Kapitalismus selbst das Verdienst 
zuzuschreiben sei, die reichere Bedürfnisbefriedigung 
des Arbeiterstandes allein bewirkt zu haben, viel- 
mehr mußte dem Kapitalismus manche sozial 
wohltätige Reform in langem Kampfe förmlich 
abgetrotzt und abgerungen werden. Aber gerade 
das beweist, daß auch innerhalb der kapitalistischen 
Welt sich Kräfte regen, welche den Tendenzen des 
„reinen“ Kapitalismus entgegenarbeiten. Alle 
Tatsachen der Statistik, bemerkt Adler (Die Zu- 
kunft der sozialen Frage 12), beweisen unwider- 
leglich, daß in der modernen bürgerlichen Gesell- 
schaftsordnung immanente Wohlstandstendenzen 
vorhanden sind, die sich stark genug erweisen, um 
— in Verbindung mit den durch Selbst= oder 
Staatshilfe geschaffenen Organisationen — die 
ebenso unzweifelhaft vorhandenen Elendstendenzen 
zu überwinden. „Mit einem geistreichen Wort
	        
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