429
den empirischen Staatsformen des Altertums oder
des Mittelalters Vorbilder, die seinen Anforde-
rungen entsprechen, wenngleich sich hier und da,
soweit es sich um die Mitausübung eines Teiles
der Staatsgewalt durch eine Art von Volksvertre-
tung handelt, Ahnlichkeiten herausstellen. In den
orientalischen Despotien und Theokratien alter
und neuer Zeit war und ist von irgend einer
Teilnahme des Volkes oder eines Volksteiles in
dieser Beziehung überhaupt nicht die Rede. Die
hellenischen Staaten hinwiederum haben außer
Betracht zu bleiben, weil sie Republiken waren,
in denen in allen selbst durch Jahrhunderte ge-
trennten und von verschiedenen Verfassungsgesetz-
gebungen beeinflußten Perioden, soweit nicht zeit-
weilig eine Ausartung in Oligarchie oder Tyran-
nis vorkam, die oberste Gewalt bei dem Volke
selbst lag und von diesem in der Volksversamm-
lung unmittelbar ausgeübt wurde. Das gilt im
Grunde genommen auch von Sparta, das nach
der lykurgischen Gesetzgebung allerdings im Doppel-
königtum eine monarchische Spitze und in der Ge-
rusia einen von der Volksversammlung durch Zu-
ruf gewählten Rat zur Entscheidung in wichtigen
Staatsangelegenheiten besaß. Ahnliches fand sich
dann auch im alten königlichen wie im Rom der
Kaiserzeit, die Republik hier auch außer Betracht
gelassen; bestand doch in beiden Perioden neben
dem Monarchen der aus früheren durch Volks-
wahl ernannten Beamten gebildete Senat, in der
Königszeit allerdings nur als beratende Körper-
schaft, in der Kaiserzeit dagegen mit den aus den
Zeiten der Republik übernommenen, unter Tibe-
rius sogar noch erweiterten verfassungsrechtlichen
Besugnissen, insbesondere in bezug auf Bewil-
ligung und Verwendung von Auflagen. Dem
theoretischen Vergleiche dieses Zustandes mit den
konstitutionellen Verhältnissen der Gegenwart tut
es auch keinen Abbruch, wenn zugegeben werden
muß, daß schon von den ersten Tagen des Kaiser-
tums ab die Bedeutung des Senats fast nur eine
sormelle, jedenfalls nur eine sehr geringe war.
Seit Diokletian wurden weder der Senat noch
die ebenso rein formell beibehaltenen Comitien
überhaupt mehr einberufen, und unter Konstantin
verschwanden beide auch der Form nach, so daß
von da ab im ganzen Umfange des damaligen
römischen Reiches, d. i. im ganzen Bereiche der
damals bekannten Kulturwelt, der monarchische
Absolutismus aufgerichtet war, der, immer mehr
die Formen des altorientalischen Despotismus
annehmend, im Osten im byzantinischen und nach
dessen Untergang im islamischen Reiche sich bis in
die neuesten Zeiten erhielt.
Der Westen des römischen Reiches fiel ger-
manischen Völkerschaften anheim. Die Verfas-
sungen dieser weisen bei ihrem ersten geschicht-
lichen Auftreten gewisse konstitutionelle Züge auf.
Die Hundertschaftsfürsten und in aufsteigender
Linie die Gaugrafen und Stammesherzoge bildeten
in Vertretung des hinter ihnen stehenden Volks-
Konstitutionalismus.
430
teils, aus dem sie durch Wahl hervorgingen, um
den König, dessen Machtvollkommenheiten ein-
schränkend, einen Rat, neben dem allerdings die
Versammlung der ganzen Landesgemeinde in der
Form der Heeresversammlung über die wichtigsten
öffentlichen Angelegenheiten, wie über Krieg und
Frieden, über den Erlaß von Gesetzen, bestimmte,
auch über schwere Verbrechen, wie Landesverrat,
das Richteramt ausübte. Dabei verblieb es auch
noch nach Gründung der merowingischen Mon-
archie bis in die karolingische Zeit. Seit dem
6. Jahrh., nach der Bekehrung der Franken zum
Christentum, traten zu dem Rate auch noch die
Bischöfe und Abte. Aber unter den machtvollen
Karolingern wurden die Versammlungen dieser
Großen, Reichshoftage, placita, später Reichs-
tage genannt, immer mehr in ihrer Selbständig-
keit herabgedrückt, so daß sie den Charakter eines
erweiterten Staatsrats annahmen, besonders nach-
dem unter Karl d. Gr. die bereits von seinen Vor-
gängern angebahnte Degradierung der Stammes-
herzoge und Grafen zu Beamten beendet wor-
den war.
Seit dem Sinken der königlichen Macht unter
Karls d. Gr. Nachfolgern änderte sich dies im
ostfränkischen Reiche aber allmählich wieder inso-
fern, als unter dem Einfluß des sich ausbildenden
Lehnswesens die Erblichkeit der großen weltlichen
Staatsämter Fortschritte machte und deren In-
haber zu Landesherren heranwuchsen, deren Teil-
nahme an den Reichstagen als ein persönliches
Recht beansprucht und durchgesetzt und deren Zu-
stimmung zu allen wichtigeren Angelegenheiten
erforderlich wurde. Der hierdurch den Reichs-
tagen des alten deutschen Reiches aufgedrückte
Charakter ist denselben auch in der Folgezeit ge-
blieben. Wenn diesen Reichstagen auch in An-
sehung der ihrer Mitwirkung unterworfenen An-
gelegenheiten und in der Art der Mitwirkung eine
Ahnlichkeit mit unsern konstitutionellen parlamen-
tarischen Körperschaften eigen ist, so fehlt bei
ihnen, wie sich von selbst ergibt, doch das Mo-
ment der Repräsentation des Volkes noch lange
Zeit gänzlich. Erst seit 1255 und insbesondere
seitdem infolge der Kämpfe im 14. und 15. Jahrh.
die zünftige Bürgerschaft in den Städten aus-
schließlich oder neben dem Patriziate zur Herr-
schaft und zu deren Vertretung auf den Reichs-
tagen gelangt war, kann in gewissem Sinne von
einer Vertretung des Volkes, aber doch immer
nur der städtischen Bevölkerung, gesprochen wer-
den. — Was hier vom Reichstage gesagt ist, gilt
auch von den entsprechenden Gebilden, die ehe-
mals in den Herzogtümern und Grafschaften und
später in den landesherrlichen Territorien in die
Erscheinung traten, den Landtagen, bis es hier
seit der Restauration und besonders nach dem
Dreißigjährigen Kriege gelang, mit überwindung
des in der ständisch gegliederten Staatsform lie-
genden Dualismus der Staatsgewalt zugleich
deren moderne Einheitlichkeit und die absolute,