Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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bis in das 19. Jahrh. erhaltene Monarchie zu 
begründen. » 
Im westfränkischen Reiche dagegen war bei 
gleichen Anfängen der Verlauf der staatlichen Ent- 
wicklung in dem hier interessierenden Punkte ein 
anderer. Nachdem hier mit dem Übergange der 
Monarchie von den Karolingern auf die Kape- 
tinger und der allmählich durchgedrungenen Ver- 
einheitlichung des französischen Volkes an Stelle 
der bis dahin noch immer bemerkbar gewesenen 
Zweiteilung in Franken und Galliern die natio- 
nale Monarchie aufgerichtet war, drohte sie zu- 
nächst unter der Macht der Barone zu erliegen. 
Erst ein allerdings Jahrhunderte dauernder Kampf 
führte von den ersten wesentlichen Erfolgen unter 
Philipp II. August und namentlich unter Phi- 
lipp IV. dem Schönen bis unter Ludwig XlI. zur 
vollständigen Niederwerfung der dem absoluten 
Königtum entgegenstehenden feudalen Mächte. 
Zwar bestand in den Etats généraux (Ge- 
neralstaaten, Generalständen) eine aus gewählten 
Vertretern des Klerus und des Adels und seit 
Philipp dem Schönen (1313) auch der städtischen 
Bürgerschaft zusammengesetzte Reichsversammlung. 
Aber deren Tätigkeit wurde in der Regel nur in 
Anspruch genommen, wenn es sich für den König 
darum handelte, außerordentliche Abgaben be- 
willigt zu erhalten. Nur bei solchen Gelegenheiten 
vermochte sie auch auf andere Staatsangelegen- 
heiten einen gewissen Einfluß zu gewinnen. Eine 
Repräsentation des gesamten Volkes konnte auch 
sie nicht genannt werden; von anderem abgesehen, 
fehlte die Vertretung der ländlichen Bevölkerung 
gänzlich. Im Jahre 1614 wurde sie zum letzten- 
mal zu ordnungsgemäßer Tätigkeit zusammenge- 
rufen, ging aber am 24. März 1615 unverrichteter 
Sache wieder auseinander. Als sie dann nach 
einer Periode von 175 Jahren absoluter Mon- 
archie am 5. Mai 1789 wegen der finanziellen 
Bedrängnis des Staates wieder versammelt wurde, 
tat sie, indem der dritte Stand die Abstim- 
mung nach Köpfen der Gewählten in gemeinsamer 
Sitzung statt der nach Ständen in getrennten 
Sitzungen durchsetzte, einen bedeutsamen Schritt 
der konstitutionellen Volksvertretung entgegen. Zu- 
gleich aber bahnte sie, indem sie sich als National- 
versammlung konstituierte, der Revolution den 
Weg. Diese aber fand, nachdem ein Verfassungs- 
gebilde das andere nach kurzer Frist abgelöst und 
die napoleonische Herrschaft mitsamt den von ihr 
aufgerichteten und von ihr abhängigen, durchweg 
ebenfalls mit Verfassungskonstitutionen versehenen 
Staaten ihr Ende erreicht hatte, ihren Abschluß 
in dem ersten konstitutionellen Staatswesen, dem 
Königtum Ludwigs XVIII. mit der ersten wirk- 
lichen konstitutionellen Verfassungsurkunde, der 
Charte vom 4. Juni 1814. 
Auch in den Staaten Italiens, soweit sie mon- 
archische waren, fanden sich ständische Vertretungen, 
so in Sizilien mit gewissen, den englischen Ver- 
hältnissen ähnlichen Einrichtungen, so in Piemont 
Konstitutionalismus. 
  
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und Savoyen und in Sardinien. Aber auch hier 
ist festzustellen, daß diese Parlamente bei dem 
Ausbruche der französischen Revolution seit Jahr- 
hunderten außer Tätigkeit gesetzt waren mit Aus- 
nahme dessen von Sizilien, das aber auch nur 
von geringer Bedeutung war. Der Kirchenstaat 
war stets absolutistisch regiert. In Spanien so- 
dann entwickelte sich allmählich in den alten Cortes 
eine ständische Volksvertretung, die am frühesten 
von allen ähnlichen Institutionen anderer Na- 
tionen Mitglieder des Bürgerstandes in sich 
schloß und lange Zeit eine kraftvolle, dem Mon- 
archen gegenüber selbstbewußte Teilnahme an der 
Staatsgewalt ausübte, bis auch hier der Ab- 
solutismus obsiegte. Die älteren Verfassungs- 
zustände der drei skandinavischen Königreiche end- 
lich weisen dieselbe Entwicklung wie in den frän- 
kischen Reichen auf; neben den Monarchen die 
Volksversammlungen und ein anfänglich vom 
Monarchen frei erkorener, später selbstberechtigter 
Reichsrat, und in der weiteren Entwicklung statt 
der Volksversammlungen ein Reichstag, auf dem 
nicht bloß Adel, Geistlichkeit und Bürger, sondern 
auch die Bauern als Stand vertreten waren. Bei 
den vielfachen Wirren, denen diese Länder aus- 
gesetzt gewesen sind, wichen ihre Verfassungen all- 
mählich stark voneinander ab. Aber mit dem Abso- 
lutismus endigten auch sie in der der französischen 
Revolution vorausgehenden Periode, während 
vorübergehend, z. B. in Schweden für die Hälfte 
des 18. Jahrh., auch einmal der Reichstag der 
Inhaber aller Gewalt wurde. 
Eine besondere Stellung in der Vorgeschichte 
des Konstitutionalismus nimmt die englische Ver- 
fassung ein, insofern nämlich, als man in ihr die 
direkte Vorläuferin, die Mutter und das Muster 
des modernen konstitutionellen Systems zu sehen 
pflegt. Was diese letztere Eigenschaft anlangt, so 
ist, wie gleich hier bemerkt sein mag, nur so viel 
richtig, daß die englische Verfassung alle Elemente 
enthält, um eine geeignete Grundlage für die 
theoretische Begründung des konstitutionellen Sy- 
stems abzugeben, daß aber, hiervon abgesehen, 
in ihr der Parlamentarismus (s. d. Art.) sein 
Musterstatut erblicken darf. Indem zu ihrer Cha- 
rakterisierung außer auf den eben bezeichneten 
noch auf den Artikel Großbritannien verwiesen 
wird, sei hier nur folgendes bemerkt. Schon zu 
Zeiten der angelsächsischen Heptarchie waren die 
Könige durch einen Rat in ihren Machtbefugnissen 
beschränkt. Mit der normannischen Eroberung so- 
dann zog ein streng durchgeführtes Feudalsystem 
ein, bis auch hier durch die Charta libertatum 
(1101) dem aus Vasallen des Königs bestehenden 
„großen Rate“ die älteren Rechte, namentlich das 
Steuerbewilligungsrecht, bestätigt wurden. Unter 
den Plantagenets wurden auch die Städte zu Rats- 
versammlungen eingeladen. Aber von einer voll- 
ständigen Volksvertretung konnte bis dahin nicht 
die Rede sein. Auch die Magna charta (1215) 
brachte keine solche. Sie bestimmte nur, daß die
	        
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