525
der Ursachen, der davon betroffenen wirtschaftlichen
Kreise und der Art und des Umfangs ihrer Wir-
kungen. Der Begriff, den man mit dem Worte
Handelskrisis verband und teilweise noch ver-
bindet, war und ist sehr allgemein und schwankend.
So definiert J. St. Mill: „Man spricht von einer
eintretenden Handelskrisis, wenn eine große An-
zahl von Kaufleuten oder sonst beim Handel (mit
Waren jeder Art) Beteiligten auf einmal eine
Schwierigkeit findet, ihren Verbindlichkeiten nach-
zukommen, oder gewahr wird, daß eine solche
Schwierigkeit stattfinden werde.“ Andere Er-
örterungen bezeichnen mit Handelskrisis „den-
jenigen Zustand allgemeiner Kreditverwirrung,
aus welchem eine mehr oder minder umfangreiche
Zahlungsunfähigkeit innerhalb kaufmännischer,
gewerblicher oder sonstiger Kreise hervorgeht".
Sie fassen absichtlich den Begriff möglichst all-
gemein, „da mit dem Worte Erscheinungen be-
nannt zu werden pflegen, die nach sehr wichtigen
Beziehungen hin voneinander abweichen“. In-
dem man diesen Erscheinungen nachging, kam man
dahin, das Wort „Handelskrisis“ durch „Absatz-
krisis“ oder „Produktionskrisis“ zu ersetzen und
weiterhin im Hinblick auf die wirtschaftlichen Ge-
biete, auf denen die Störungen in die Erscheinung
traten, von Börsenkrisen, Gründungskrisen rc.
zu sprechen, So unterscheidet nunmehr Conrad
(in seinem Grundriß zum Studium der politi-
schen Okonomie): 1) Börsenkrisen und sonstige
Spekulationskrisen, 2) allgemeine Kreditkrisen,
3) Handelskrisen, 4) industrielle Absatzkrisen und
5) Agrarkrisen. Er definiert diese Krisen als vor-
übergehende allgemeinere Stockungen im wirt-
schaftlichen Leben, die als ein Rückschlag gegenüber
besonders reger und gewinnbringender Tätigkeit
auftreten. Schäffle (in dem Deutschen Staats-
wörterbuch von Bluntschli und Brater) beschränkt
sich darauf, „jene Gleichgewichtsstörungen zwischen
Erzeugung und Verbrauch, welche periodisch im
wirtschaftlichen Leben der Völker wiederkehren“,
nach der Richtung zu untersuchen, wie sie als
Handelskrisen in die Erscheinung treten. In der
englischen Wissenschaft wurde im Jahre 1842 für
die in Rede stehenden Störungen der Ausdruck
Depression, Depression of Trade, Depression
des Wirtschaftslebens, gebraucht und ist seitdem
ebenfalls in Aufnahme gekommen. Doch wird
zwischen Krisis und Depression der Unterschied
aufrecht erhalten, daß man unter jener die „akuten
Rückschläge gegen bestimmte Ubertreibungen im
wirtschaftlichen Leben“ begreift, während man mit
dieser die nicht plötzlich auftretenden, schleichenden,
länger andauernden, chronischen Störungen be-
zeichnet. Je nach der größeren oder geringeren
Ausdehnung, welche die Störungen nehmen,
spricht man von allgemeinen oder besondern Krisen.
Mit jenen Unterscheidungen deckt man natürlich
nicht das Wesen der wirtschaftlichen Störungen
auf; man bezeichnet damit nur näher die wirt-
schaftlichen Kreise, innerhalb deren die Krisis ent-
Krisen.
526
steht, verläuft und ihre Wirkungen äußert; man
weist nur auf Symptome hin. Zur richtigen Be-
urteilung würde man wohl gelangen, wenn die
Ursachen erkannt würden, auf welche die Stö-
rungen zurückzuführen sind. In dieser Richtung
aber sieht es nicht besser aus. Es wird z. B. nichts
gewonnen, wenn man die Ursache in dem „plötz=
lichen Kreditverschwinden" finden will. Man wird
dann billig fragen, ob dieses plötzliche Kreditver-
schwinden nicht selbst schon eine Krisis bedeute,
nach deren Ursache wieder geforscht werden müßte.
Historisch sei hier nur erwähnt, daß der englische
Nationalökonom Jevons aus der regelmäßigen
Wiederkehr größerer volkswirtschaftlicher Krisen
ein System konstruierte, nach welchem die Krisen
hauptsächlich auf Mißernten und letztere auf die
regelmäßig auftretenden Sonnenflecken zurück-
zuführen seien. Nun ist richtig, daß für die erste
Hälfte des 19. Jahrh. die volkswirtschaftlichen
Krisen mit den Ernteverhältnissen in engem Zu-
sammenhange stehen; aber nicht bloß Mißernten,
sondern auch allzu reiche Ernten (wie in den
Jahren 1818/23, 1836/39) waren die näheren
und entfernteren Anlässe für Krisen. Für die heu-
tige Zeit ist dieser Einfluß bedeutend abgeschwächt,
jedenfalls gibt es Krisen, mit denen der Ernte-
ausfall an sich durchaus nichts zu tun hat,
z. B. Spekulationskrisen. Ebensowenig kann man
alle Krisen auf Überproduktion infolge der Plan-
losigkeit der kapitalistischen Produktionsweise zu-
rückführen, wie es in dem „kommunistischen Mani-
fest“ von Karl Marx und Friedrich Engels aus
dem Jahre 1848 geschieht: „In den Krisen bricht
eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen
früheren Epochen als Widersinn erschienen wäre,
— eine Epidemie der Uberproduktion. Die Ge-
sellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand mo-
mentaner Barbarei zurückversetzt; ein allgemeiner
Vernichtungskrieg scheint ihr alle Lebensmittel ab-
geschnitten zu haben, die Industrie, der Handel
cheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel
Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie,
zuviel Handel besitzt.“ Hier gilt jedenfalls das
vorhin Gesagte entsprechend, daß die Produktion
an sich z. B. mit der Spekulationskrisis durchaus
nichts zu tun hat. Im übrigen darf vollständig
zugegeben werden, daß auf vielen Gebieten die
moderne Produktion in der Tat selbst von denen
nicht übersehen und dem Bedürfnisse angepaßt
werden kann — und darum in gewissem Sinne
als volkswirtschaftlich planlos bezeichnet werden
darf —, die an hervorragendster Stelle stehen,
und daß die solches erklärenden Gründe die damit
im Zusammenhange stehende Überproduktion nicht
rechtfertigen. Es darf auch weiter zugegeben wer-
den, daß die Überproduktion Krisen veranlassen
kann und veranlaßt hat, ohne daß daraus folgt,
sie müsse die alleinige Ubeltäterin oder auch der
letzte Grund sein. Was von ihr gilt, muß auf
alle Fälle auch von der Unterkonsumtion, der Ver-
minderung der gewohnten Nachfrage gelten; ja
—