Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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der Ursachen, der davon betroffenen wirtschaftlichen 
Kreise und der Art und des Umfangs ihrer Wir- 
kungen. Der Begriff, den man mit dem Worte 
Handelskrisis verband und teilweise noch ver- 
bindet, war und ist sehr allgemein und schwankend. 
So definiert J. St. Mill: „Man spricht von einer 
eintretenden Handelskrisis, wenn eine große An- 
zahl von Kaufleuten oder sonst beim Handel (mit 
Waren jeder Art) Beteiligten auf einmal eine 
Schwierigkeit findet, ihren Verbindlichkeiten nach- 
zukommen, oder gewahr wird, daß eine solche 
Schwierigkeit stattfinden werde.“ Andere Er- 
örterungen bezeichnen mit Handelskrisis „den- 
jenigen Zustand allgemeiner Kreditverwirrung, 
aus welchem eine mehr oder minder umfangreiche 
Zahlungsunfähigkeit innerhalb kaufmännischer, 
gewerblicher oder sonstiger Kreise hervorgeht". 
Sie fassen absichtlich den Begriff möglichst all- 
gemein, „da mit dem Worte Erscheinungen be- 
nannt zu werden pflegen, die nach sehr wichtigen 
Beziehungen hin voneinander abweichen“. In- 
dem man diesen Erscheinungen nachging, kam man 
dahin, das Wort „Handelskrisis“ durch „Absatz- 
krisis“ oder „Produktionskrisis“ zu ersetzen und 
weiterhin im Hinblick auf die wirtschaftlichen Ge- 
biete, auf denen die Störungen in die Erscheinung 
traten, von Börsenkrisen, Gründungskrisen rc. 
zu sprechen, So unterscheidet nunmehr Conrad 
(in seinem Grundriß zum Studium der politi- 
schen Okonomie): 1) Börsenkrisen und sonstige 
Spekulationskrisen, 2) allgemeine Kreditkrisen, 
3) Handelskrisen, 4) industrielle Absatzkrisen und 
5) Agrarkrisen. Er definiert diese Krisen als vor- 
übergehende allgemeinere Stockungen im wirt- 
schaftlichen Leben, die als ein Rückschlag gegenüber 
besonders reger und gewinnbringender Tätigkeit 
auftreten. Schäffle (in dem Deutschen Staats- 
wörterbuch von Bluntschli und Brater) beschränkt 
sich darauf, „jene Gleichgewichtsstörungen zwischen 
Erzeugung und Verbrauch, welche periodisch im 
wirtschaftlichen Leben der Völker wiederkehren“, 
nach der Richtung zu untersuchen, wie sie als 
Handelskrisen in die Erscheinung treten. In der 
englischen Wissenschaft wurde im Jahre 1842 für 
die in Rede stehenden Störungen der Ausdruck 
Depression, Depression of Trade, Depression 
des Wirtschaftslebens, gebraucht und ist seitdem 
ebenfalls in Aufnahme gekommen. Doch wird 
zwischen Krisis und Depression der Unterschied 
aufrecht erhalten, daß man unter jener die „akuten 
Rückschläge gegen bestimmte Ubertreibungen im 
wirtschaftlichen Leben“ begreift, während man mit 
dieser die nicht plötzlich auftretenden, schleichenden, 
länger andauernden, chronischen Störungen be- 
zeichnet. Je nach der größeren oder geringeren 
Ausdehnung, welche die Störungen nehmen, 
spricht man von allgemeinen oder besondern Krisen. 
Mit jenen Unterscheidungen deckt man natürlich 
nicht das Wesen der wirtschaftlichen Störungen 
auf; man bezeichnet damit nur näher die wirt- 
schaftlichen Kreise, innerhalb deren die Krisis ent- 
Krisen. 
  
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steht, verläuft und ihre Wirkungen äußert; man 
weist nur auf Symptome hin. Zur richtigen Be- 
urteilung würde man wohl gelangen, wenn die 
Ursachen erkannt würden, auf welche die Stö- 
rungen zurückzuführen sind. In dieser Richtung 
aber sieht es nicht besser aus. Es wird z. B. nichts 
gewonnen, wenn man die Ursache in dem „plötz= 
lichen Kreditverschwinden" finden will. Man wird 
dann billig fragen, ob dieses plötzliche Kreditver- 
schwinden nicht selbst schon eine Krisis bedeute, 
nach deren Ursache wieder geforscht werden müßte. 
Historisch sei hier nur erwähnt, daß der englische 
Nationalökonom Jevons aus der regelmäßigen 
Wiederkehr größerer volkswirtschaftlicher Krisen 
ein System konstruierte, nach welchem die Krisen 
hauptsächlich auf Mißernten und letztere auf die 
regelmäßig auftretenden Sonnenflecken zurück- 
zuführen seien. Nun ist richtig, daß für die erste 
Hälfte des 19. Jahrh. die volkswirtschaftlichen 
Krisen mit den Ernteverhältnissen in engem Zu- 
sammenhange stehen; aber nicht bloß Mißernten, 
sondern auch allzu reiche Ernten (wie in den 
Jahren 1818/23, 1836/39) waren die näheren 
und entfernteren Anlässe für Krisen. Für die heu- 
tige Zeit ist dieser Einfluß bedeutend abgeschwächt, 
jedenfalls gibt es Krisen, mit denen der Ernte- 
ausfall an sich durchaus nichts zu tun hat, 
z. B. Spekulationskrisen. Ebensowenig kann man 
alle Krisen auf Überproduktion infolge der Plan- 
losigkeit der kapitalistischen Produktionsweise zu- 
rückführen, wie es in dem „kommunistischen Mani- 
fest“ von Karl Marx und Friedrich Engels aus 
dem Jahre 1848 geschieht: „In den Krisen bricht 
eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen 
früheren Epochen als Widersinn erschienen wäre, 
— eine Epidemie der Uberproduktion. Die Ge- 
sellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand mo- 
mentaner Barbarei zurückversetzt; ein allgemeiner 
Vernichtungskrieg scheint ihr alle Lebensmittel ab- 
geschnitten zu haben, die Industrie, der Handel 
cheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel 
Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, 
zuviel Handel besitzt.“ Hier gilt jedenfalls das 
vorhin Gesagte entsprechend, daß die Produktion 
an sich z. B. mit der Spekulationskrisis durchaus 
nichts zu tun hat. Im übrigen darf vollständig 
zugegeben werden, daß auf vielen Gebieten die 
moderne Produktion in der Tat selbst von denen 
nicht übersehen und dem Bedürfnisse angepaßt 
werden kann — und darum in gewissem Sinne 
als volkswirtschaftlich planlos bezeichnet werden 
darf —, die an hervorragendster Stelle stehen, 
und daß die solches erklärenden Gründe die damit 
im Zusammenhange stehende Überproduktion nicht 
rechtfertigen. Es darf auch weiter zugegeben wer- 
den, daß die Überproduktion Krisen veranlassen 
kann und veranlaßt hat, ohne daß daraus folgt, 
sie müsse die alleinige Ubeltäterin oder auch der 
letzte Grund sein. Was von ihr gilt, muß auf 
alle Fälle auch von der Unterkonsumtion, der Ver- 
minderung der gewohnten Nachfrage gelten; ja 
—
	        
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