Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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weil der vollkommene Staat nicht nur ein Rechts- 
staat ist, sondern auch ein Kulturstaat, der inner- 
halb der Grenzen seiner Leistungsfähigkeit eine ge- 
sunde, auf den allseitigen Fortschritt bedachte 
Kulturpolitik treiben soll, wenn anders er im 
Wettbewerb der Völker eine geachtete oder gar 
führende Rolle spielen will. Da unter den mannig- 
fachen Kulturfunktionen auch die idealen Faktoren 
der Religion und Sittlichkeit eine wichtige, ja die 
wichtigste Stelle einnehmen, insofern sie auf den 
Entwicklungsgang der Kultur bald treibend bald 
zügelnd, jedenfalls mitbestimmend einwirken, so 
wird es für den Staatsmann und Politiker nicht 
ohne Interesse sein, wenn an dieser Stelle auch das 
Verhältnis des Katholizismus zur Kultur einer 
kurzen Würdigung unterzogen wird. 
I. Begriffder Kultur. Der Ausdruck, Kultur“ 
(vom lat. colere — bebauen, pflegen) besitzt trotz 
seiner in der Literatur unangenehm bemerkten Viel- 
deutigkeit im Begriffe der „Natur“ seinen ein- 
deutig bestimmten, relativen Gegensatz, an dem er 
begrifflich gemessen werden kann. 
1. Unter Natur verstehen wir nicht nur die 
ganze leblose und belebte Körperwelt außer und 
um uns, sondern namentlich auch die durch die 
menschliche Fortpflanzung gegebene Natur des 
Menschen selbst, insofern dieselbe durch die Aus- 
bildung und Betätigung aller in ihr schlummern- 
den höheren Anlagen und Kräfte aus dem rohen 
Naturzustand frei über sich selbst hinaus auf eine 
höhere Daseinsstufe emporgehoben werden kann. 
Freilich gibt es völlig kulturlose Völker so wenig 
als sprachlose, höchstens kulturarme; denn selbst 
die unzivilisierten „Wilden“, wie z. B. die Weddas 
auf Ceylon, die Negritos der Philippinen und die 
afrikanischen Zwergvölker, beweisen mit ihren 
Waffen und Gerätschaften, ihren ethischen Be- 
griffen und Rechtssatzungen usw., daß sie über die 
nackte Natur sich bereits geistig erhoben haben. 
Die Kultur überhaupt gipfelt daher letztlich in 
der geistigen Eroberung und Beherrschung der 
Natur durch den Menschen sie bedeutet den Sieg 
des Geistes über die physische Welt. Insofern die 
Erforschung der Himmelsräume in gewissem Sinne 
das ganze Universum der überlegenen Herrschaft 
des Geistes unterwirft, wird auch die Ausübung 
der Astronomie zu einer Kulturarbeit ersten 
Ranges, weshalb dieselbe auch bei allen bedeu- 
tenden Kulturvölkern in hoher Blüte zu stehen 
pflegt. Der eigentliche Schauplatz der Kultur 
bleibt allerdings auf die Erde beschränkt. Hier 
nimmt sie aber naturgemäß so viele Gestalten und 
Formen an, als es Gebiete gibt, auf denen der 
schaffende Menschengeist sich frei betätigen kann. 
Diese freie Betätigung heißt Arbeit, ohne welche 
weder die Gewinnung einer noch nicht vorhan- 
denen höheren noch die Festhaltung einer schon 
erstiegenen gegenwärtigen Kulturstufe möglich ist. 
Ohne ein bestimmtes Maß von Arbeits- 
energie, die sich aus Arbeitskraft und Arbeits- 
willen zusammensetzt, gehen noch so hohe Kulturen 
Kultur. 
  
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unnachsichtlich wieder verloren, wie das warnende 
Beispiel jener heruntergekommenen Völker beweist, 
die entweder durch spontane Entartung oder durch 
fremde Unterjochung von ihrer früheren Kultur- 
höhe kläglich herabgestürzt sind. Nirgends mehr 
als von der Kultur gilt das Wort Goethes, daß 
men sie beständig erwerben müsse, um sie zu be- 
itzen. 
2. Die auf die Bearbeitung der Naturprodukte 
(Agrikultur, Viehzucht, Bergbauy sowie die Ver- 
wertung der Naturkräfte (Wasser= und Dampf- 
kraft, Elektrizität) gerichtete praktische Verstan- 
destätigkeit ist die Schöpferin der niederen oder 
materiellen Kultur, die, aus dem wirtschaftlichen 
Bedürfnis entsprungen, kurz auch die wirtschaft- 
liche Kultur heißt. Als bloßer Ausfluß derselben 
gilt die technische Kultur, welche in ihrer engen 
Verbindung mit der fortgeschrittenen Naturwissen- 
chaft heute zu einer so ungeahnten Höhe empor- 
gestiegen ist, daß sie unserem Zeitalter mit seinen 
großartigen Verkehrsmitteln und sinnreichen Ma- 
schinen aller Art eine ganz eigenartige Signatur 
aufdrückt. Nach der Unterjochung von Land und 
Meer durch Lokomotiven, Kraftfahrzeuge und 
Schiffskolosse strebt der Menschengeist in der 
neuesten Phase dahin, auch das bis jetzt noch un- 
eroberte Reich der Luft zu besiegen und in lenk- 
baren Luftschiffen und Gleitfliegern den Interessen 
des Verkehrs und der Landesverteidigung dienst- 
bar zu machen. Mit der Bewältigung dieser 
Riesenaufgabe wird die technische Kultur ihren 
Höhepunkt erklommen haben. 
Eine ungleich höhere Kultur entsteht, wenn der 
menschliche Geist die rein idealen Gebiete des 
Wahren, sittlich Guten und Schönen nicht aus 
dem praktischen Bedürfnis heraus, sondern um 
ihrer selbst willen bebaut und pflegt. Denn aus 
der Pflege der Wahrheit erblüht die vielgestaltige 
Wissenschaft, welche die äußere Welt, den 
Menschen und die Gottheit zu erforschen sucht und 
ein ganzes Heer von Veranstaltungen, wie 
Volksschulen, Gymnasien, Universitäten, Bücher, 
Bibliotheken, wissenschaftliche Akademien und 
internationale Kongresse, ins Leben ruft, während 
Fach= und Gewerbeschulen, Handelsschulen, tech- 
nische Hochschulen und Weltausstellungen neben 
dem Studium der Wahrheit auch der Ausbreitung, 
Vervollkommnung und Vertiefung der wirtschaft- 
lichen und technischen Kultur dienen. Ein großes 
und wichtiges Gebiet umspannt die aus der Pflege 
der Sittlichkeit entspringende sittliche Kultur, 
welche einerseits die Idee des sittlich Guten in der 
ethischen Lebensführung des Einzelmenschen ver- 
wirklicht, anderseits die rechtlich-soziale Tätigkeit 
der menschlichen Gesellschaft in Familie und Staat 
regelt und leitet. Auf den sittlichen Ideen baut 
sich eben auch die ganze Rechtsordnung auf, die 
das Verhältnis der Menschen zueinander sowie zur 
staatlichen Gemeinschaft ordnet und in den ver- 
schiedenen Arten von Gesetzen und Gerichtshöfen 
ihre Verkörperung findet. Neben der wissenschaft- 
—
	        
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