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weil der vollkommene Staat nicht nur ein Rechts-
staat ist, sondern auch ein Kulturstaat, der inner-
halb der Grenzen seiner Leistungsfähigkeit eine ge-
sunde, auf den allseitigen Fortschritt bedachte
Kulturpolitik treiben soll, wenn anders er im
Wettbewerb der Völker eine geachtete oder gar
führende Rolle spielen will. Da unter den mannig-
fachen Kulturfunktionen auch die idealen Faktoren
der Religion und Sittlichkeit eine wichtige, ja die
wichtigste Stelle einnehmen, insofern sie auf den
Entwicklungsgang der Kultur bald treibend bald
zügelnd, jedenfalls mitbestimmend einwirken, so
wird es für den Staatsmann und Politiker nicht
ohne Interesse sein, wenn an dieser Stelle auch das
Verhältnis des Katholizismus zur Kultur einer
kurzen Würdigung unterzogen wird.
I. Begriffder Kultur. Der Ausdruck, Kultur“
(vom lat. colere — bebauen, pflegen) besitzt trotz
seiner in der Literatur unangenehm bemerkten Viel-
deutigkeit im Begriffe der „Natur“ seinen ein-
deutig bestimmten, relativen Gegensatz, an dem er
begrifflich gemessen werden kann.
1. Unter Natur verstehen wir nicht nur die
ganze leblose und belebte Körperwelt außer und
um uns, sondern namentlich auch die durch die
menschliche Fortpflanzung gegebene Natur des
Menschen selbst, insofern dieselbe durch die Aus-
bildung und Betätigung aller in ihr schlummern-
den höheren Anlagen und Kräfte aus dem rohen
Naturzustand frei über sich selbst hinaus auf eine
höhere Daseinsstufe emporgehoben werden kann.
Freilich gibt es völlig kulturlose Völker so wenig
als sprachlose, höchstens kulturarme; denn selbst
die unzivilisierten „Wilden“, wie z. B. die Weddas
auf Ceylon, die Negritos der Philippinen und die
afrikanischen Zwergvölker, beweisen mit ihren
Waffen und Gerätschaften, ihren ethischen Be-
griffen und Rechtssatzungen usw., daß sie über die
nackte Natur sich bereits geistig erhoben haben.
Die Kultur überhaupt gipfelt daher letztlich in
der geistigen Eroberung und Beherrschung der
Natur durch den Menschen sie bedeutet den Sieg
des Geistes über die physische Welt. Insofern die
Erforschung der Himmelsräume in gewissem Sinne
das ganze Universum der überlegenen Herrschaft
des Geistes unterwirft, wird auch die Ausübung
der Astronomie zu einer Kulturarbeit ersten
Ranges, weshalb dieselbe auch bei allen bedeu-
tenden Kulturvölkern in hoher Blüte zu stehen
pflegt. Der eigentliche Schauplatz der Kultur
bleibt allerdings auf die Erde beschränkt. Hier
nimmt sie aber naturgemäß so viele Gestalten und
Formen an, als es Gebiete gibt, auf denen der
schaffende Menschengeist sich frei betätigen kann.
Diese freie Betätigung heißt Arbeit, ohne welche
weder die Gewinnung einer noch nicht vorhan-
denen höheren noch die Festhaltung einer schon
erstiegenen gegenwärtigen Kulturstufe möglich ist.
Ohne ein bestimmtes Maß von Arbeits-
energie, die sich aus Arbeitskraft und Arbeits-
willen zusammensetzt, gehen noch so hohe Kulturen
Kultur.
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unnachsichtlich wieder verloren, wie das warnende
Beispiel jener heruntergekommenen Völker beweist,
die entweder durch spontane Entartung oder durch
fremde Unterjochung von ihrer früheren Kultur-
höhe kläglich herabgestürzt sind. Nirgends mehr
als von der Kultur gilt das Wort Goethes, daß
men sie beständig erwerben müsse, um sie zu be-
itzen.
2. Die auf die Bearbeitung der Naturprodukte
(Agrikultur, Viehzucht, Bergbauy sowie die Ver-
wertung der Naturkräfte (Wasser= und Dampf-
kraft, Elektrizität) gerichtete praktische Verstan-
destätigkeit ist die Schöpferin der niederen oder
materiellen Kultur, die, aus dem wirtschaftlichen
Bedürfnis entsprungen, kurz auch die wirtschaft-
liche Kultur heißt. Als bloßer Ausfluß derselben
gilt die technische Kultur, welche in ihrer engen
Verbindung mit der fortgeschrittenen Naturwissen-
chaft heute zu einer so ungeahnten Höhe empor-
gestiegen ist, daß sie unserem Zeitalter mit seinen
großartigen Verkehrsmitteln und sinnreichen Ma-
schinen aller Art eine ganz eigenartige Signatur
aufdrückt. Nach der Unterjochung von Land und
Meer durch Lokomotiven, Kraftfahrzeuge und
Schiffskolosse strebt der Menschengeist in der
neuesten Phase dahin, auch das bis jetzt noch un-
eroberte Reich der Luft zu besiegen und in lenk-
baren Luftschiffen und Gleitfliegern den Interessen
des Verkehrs und der Landesverteidigung dienst-
bar zu machen. Mit der Bewältigung dieser
Riesenaufgabe wird die technische Kultur ihren
Höhepunkt erklommen haben.
Eine ungleich höhere Kultur entsteht, wenn der
menschliche Geist die rein idealen Gebiete des
Wahren, sittlich Guten und Schönen nicht aus
dem praktischen Bedürfnis heraus, sondern um
ihrer selbst willen bebaut und pflegt. Denn aus
der Pflege der Wahrheit erblüht die vielgestaltige
Wissenschaft, welche die äußere Welt, den
Menschen und die Gottheit zu erforschen sucht und
ein ganzes Heer von Veranstaltungen, wie
Volksschulen, Gymnasien, Universitäten, Bücher,
Bibliotheken, wissenschaftliche Akademien und
internationale Kongresse, ins Leben ruft, während
Fach= und Gewerbeschulen, Handelsschulen, tech-
nische Hochschulen und Weltausstellungen neben
dem Studium der Wahrheit auch der Ausbreitung,
Vervollkommnung und Vertiefung der wirtschaft-
lichen und technischen Kultur dienen. Ein großes
und wichtiges Gebiet umspannt die aus der Pflege
der Sittlichkeit entspringende sittliche Kultur,
welche einerseits die Idee des sittlich Guten in der
ethischen Lebensführung des Einzelmenschen ver-
wirklicht, anderseits die rechtlich-soziale Tätigkeit
der menschlichen Gesellschaft in Familie und Staat
regelt und leitet. Auf den sittlichen Ideen baut
sich eben auch die ganze Rechtsordnung auf, die
das Verhältnis der Menschen zueinander sowie zur
staatlichen Gemeinschaft ordnet und in den ver-
schiedenen Arten von Gesetzen und Gerichtshöfen
ihre Verkörperung findet. Neben der wissenschaft-
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