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drängt wurden, selbst der freien Konkurrenz
Schranken zu ziehen, wie sie fester und von so
weittragender Bedeutung niemals zuvor bestanden
hatten. Ist doch die gemeinsame Konkurrenzregu-
lierung keine ganz neue Erscheinung im wirtschaft-
lichen Leben. Auch die Zünfte erstrebten auf
ihrem engeren Gebiete eine derartige Regulierung,
und schon vor ihnen, bis in die ältesten Perioden
der Wirtschaftsgeschichte lassen sich, vorwiegend
allerdings auf dem Gebiete des Handels, kartell-
artige Bildungen verfolgen. Als mit der end-
gültigen Beseitigung der alten Zunftschranken die
Gewerbefreiheit Platz griff, erfüllte sie zunächst
wohl den gewollten Zweck: die gewerbliche Ent-
wicklung nahm unter dem Antrieb der Konkurrenz
einen ungeahnten Aufschwung, die Großindustrie,
das Kind der Gewerbefreiheit, wuchs empor.
Aber bald genug erwies sich die zügellose Kon-
kurrenz als ein zweischneidiges Schwert, bald
genug sah man ein, daß man zu radikal vor-
gegangen war. Und nicht nur mußte der Staat
nach und nach wieder zahlreichere Einschränkungen
der Gewerbefreiheit aufstellen, nicht nur begann,
vom Staat mehr und mehr begünstigt, im Klein-
gewerbe eine neue Innungsbildung — freilich
ohne die monopolistischen Tendenzen der älteren —,
sondern auch in der Großindustrie regte sich dem
liberalen Individualprinzip zum Trotz das Or-
ganisationsbedürfnis. So entstanden zuerst losere
Interessenverbände, wirtschaftliche Vereinigungen,
Vereine zur Wahrung gemeinsamer wirtschaft-
licher Interessen u. dgl. In Deutschland kamen
diese großindustriellen Organisationsbestrebungen
in den 1860er und Anfang der 1870er Jahre
zum Durchbruch, als mit dem Anwachsen der
nationalen und internationalen Industrie die
Schwierigkeiten der Konkurrenz bereits ernstlich
fühlbar zu werden begannen. Dann folgte auf
den Ausschwung der 1850er und 1860er Jahre
eine Zeit der Uberproduktion, der Absatzstockungen
und Krisen, die infolge der ungeregelten Kon-
kurrenz jahrelang anhielten. Und nun wagten sich
auch kartellartige Organisationen wieder hervor;
erst schüchtern, dann immer kühner erhoben sie ihr
Haupt, wenn sie auch bis heute den Schleier des
Geheimnisses nie ganz abgelegt haben. Seit der
Mitte der 1870er Jahre datiert in Deutschland
diese neue Kartellbewegung, bei welcher es sich also
in der Regel nicht um Kleingewerbetreibende oder
Kaufleute, sondern vorwiegend um großindustrielle
Betriebe, meist sogar Aktiengesellschaften, nicht um
kleine Märkte, sondern um große nationale, teil-
weise auch internationale Absatzgebiete handelt.
Allerdings existieren auch heute im kleinen und
mittleren Gewerbe kartellartige Organisationen;
man braucht nur an die häufig vorkommenden
lokalen Preisvereinbarungen von Bäckern und
Fleischern zu erinnern. Ein anderes Beispiel bietet
eine 1897 abgeschlossene Konvention zwischen den
Dachdeckermeistervereinen von 24 heinischen
Städten einerseits und den rheinischen Schiefer-
Kartelle.
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grubenbesitzern und Schieferhändlern anderseits,
worin hauptsächlich letztere sich verpflichten, nur
an Mitglieder der Dachdeckermeistervereine zu ver-
kaufen, erstere, nur von letzteren zu beziehen
(A. Voigt in „Soziale Praxis“ VI 1194). Aber-
solche Kleingewerbekartelle sind seltener, mehr lo-
kaler Natur und in der Regel weniger ausgebildet
wie die großindustriellen. Kartellartige Gebilde
gibt es ferner auch heute noch im Handel und
Bankwesen. Es sind unter andern die sog. Spe-
kulantenringe, welche zeitweilig für kürzere Dauer
entstehen, um durch Aufkauf und Zurückhaltung
einer Ware den Preis in wucherischer Weise in
die Höhe zu treiben; es sind z. B. die Syndikate
von Banken, welche zum Zwecke von Gründungen
und der Unterbringung von Anleihen ebenfalls für
kürzere Dauer geschlossen werden. Aber derartige
Vereinigungen unterscheiden sich von dem, was
man in der heutigen Volkswirtschaft gewöhnlich
unter einem Kartell versteht, in wesentlichen
Punkten, wie die nähere Begriffsbestimmung des
letzteren noch ergeben wird. Weiterhin fehlt es
selbst in der Landwirtschaft heute nicht an Kar-
tellierungsbestrebungen (Kartelle von Zuckerrüben-
produzenten); ein größerer Erfolg derselben ist
jedoch nicht zu verzeichnen und aus später zu er-
wähnenden Gründen auch wohl kaum zu er-
warten. Endlich haben die gewerkschaftlichen Or-
ganisationen der Industriearbeiterschaft zwar eine
gewisse Ahnlichkeit mit den Unternehmerkartellen
sowohl hinsichtlich ihrer Grundsätze wie Bestre-
bungen, gleichwohl ist es nicht üblich, dieselben
als Kartelle zu betrachten.
Unter der Bezeichnung „Kartelle“ hat man
vielmehr fast ausschließlich die vorerwähnten,
heute besonders zahl= und einflußreichen groß-
industriellen Kartelle im Auge; mit diesen be-
schäftigen sich vorwiegend die nationalökonomi-
schen Untersuchungen über das Kartellwesen, wenn
auch die streng wissenschaftliche Definition des Be-
griffs Kartell weniger enge Schranken ziehen muß.
II. Was sind Kartelle? — Ebenso wie in
der Beurteilung der volkswirtschaftlichen Bedeu-
tung der Kartelle gehen auch in der Charakteri=
sierung ihres Wesens die Ansichten auseinander.
F. Kleinwächter (Die Kartelle (1883)), der oft
der wissenschaftliche Entdecker der Kartelle genannt
wird, bezeichnet in seiner ersten, sehr weitgehenden
Definition die Kartelle als „Ubereinkommen von
Unternehmern derselben Branche, deren Zweck da-
hin geht, die schrankenlose Konkurrenz der Unter-
nehmer untereinander einigermaßen zu beseitigen
und die Produktion mehr oder weniger derart zu
regeln, daß dieselbe wenigstens annähernd dem
Bedarf angepaßt werde“. Von den Erklärungen
neuerer wissenschaftlicher Bearbeiter des Kartell-
wesens nennen wir nur diejenigen Liefmanns und
Pohles (s. Lit. am Schluß). Ersterer betrachtet als
Kartell eine solche Vereinigung von Unternehmern,
„welche die wirtschaftliche (Verkaufs-) Tätigkeit
ihrer Mitglieder in einem bestimmten Punkte