Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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L1909] 364). Wir halten jene Auffassung für 
die richtigere, welche die Errungenschaften nicht 
nur der materiellen, sondern auch der sozialen, 
wissenschaftlichen und künstlerischen Kultur schon 
als „Zivilisation“ gelten läßt, obschon die sitt- 
lich-religiöse Kultur entweder so gut wie gänzlich 
fehlt oder in Unsittlichkeit und Atheismus auf 
ihrem Tiefpunkt angelangt ist. Dies scheint auch 
der Standpunkt des hl. Augustinus (a. a. O.) ge- 
wesen zu sein. Nachdem er in glühenden Farben 
die Vollendung der römischen Zivilisation seiner 
Zeit geschildert hat: die Fortschritte der Agri- 
kultur und des Städtewesens, das politisch-soziale 
Gefüge des Reiches, die Stufenleiter der Amter 
und Würden, die Schulen und Bibliotheken, die 
Sprachen und Einrichtungen der Völler, die 
Wunder der Missenschaft und schönen Künste 
usw., bemerkt er zum Schluß, daß dieser so große 
und herrliche Apparat das Besitztum der guten 
wie der schlechten Seelen sei. Daß diese Früchte 
menschlichen Schaffens ohne den sozialen Zu- 
sammenschluß im Organismus des Staates un- 
erreichbar wären, verstand sich für ihn ebenso von 
selbst, wie die Unmöglichkeit ihrer Dauerhaftig- 
keit und Lebensfähigkeit ohne den Hinzutritt der 
sittlich-religiösen Ideen. Denn ohne die Herr- 
schaft der sozialen Gerechtigkeit und der allge- 
meinen Nächstenliebe müßte ja ein Kampf aller 
gegen alle entbrennen, der die Schöpfungen der 
Zivilisation unbarmherzig unter ihren eignen 
Trümmern wieder begrübe. Das Moment des 
gesteigerten Menschenglücks oder des allgemeinen 
Weltfriedens gehört weder zum Begriffe der Zi- 
vilisation noch zu dem der Kultur, weil nach Aus- 
weis der Erfahrung zugleich mit dem Kultur- 
fortschritt auch die unersättlichen Bedürfnisse 
wachsen und in Zeiten der Überkultur eher eine 
übersättigte Blasiertheit als ein gesundes Wohl- 
behagen erzeugen. Überkultur ist überall da vor- 
handen, wo der Mensch durch unnatürliche Reiz- 
mittel aus dem ursprünglichen Zusammenhang mit 
der Natur herausgerissen statt geistig über sie er- 
hoben wird. Symptome einer solchen über- 
feinerten Kultur machen sich am ehesten und deut- 
lichsten im modernen Großstadtleben bemerklich. 
5. Die subjektive Seite der Kultur spricht sich 
in der Bildung und Gesittung aus, durch 
die der Kulturmensch sich die objektiv vorhandenen 
Kulturgüter in Unterricht und Erziehung erst an- 
eignet. Denn die Kultur schafft zunächst nur ob- 
jektive Werte, denen das Individuum als ebenso- 
vielen, geistig noch unbezwungenen Mächten arm 
und hilflos gegenübersteht. Wird der Einzel- 
mensch zwar in die wirtschaftlichen Verhältnisse 
sozusagen hineingeboren, insofern er die ungesuchte 
Erbschaft von Haus und Acker, Straßen und 
Brücken usw. antritt, so steht es doch anders um 
die idealen Kulturgüter, die nur durch persönliche 
Anstrengung, ethische Selbstbemühung und indi- 
viduelle Religionsübung in Besitz genommen 
werden können. Die Anteilnahme an den sittlich- 
  
Kultur. 
  
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religiösen Kulturgütern ist allen Menschen ohne 
Unterschied, Reichen und Armen, Gebildeten und 
Ungebildeten, möglich. Und es verdient betont zu 
werden, daß ein braver Handwerker oder gottes- 
fürchtiger Arbeiter ein edleres und würdigeres 
Mitglied der Gesellschaft darstellt als der protzige 
Millionär, der seinen Reichtum unnütz verpraßt 
und die Gebote Gottes mißachtet. Die Seg- 
nungen der übrigen Kulturgüter dagegen stehen in 
der Regel nur den höheren Ständen, ja bei der 
unübersehbaren Vielseitigkeit und wachsenden 
Kompliziertheit der modernen Kultur nicht einmal 
diesen offen; denn selbst der begabteste Kapitalist 
kann nicht zugleich ein vollendeter Gelehrter, 
Künstler, Politiker, Sportsmann usw. sein. Je- 
doch wird eine weise Kulturpolitik immerhin 
Sorge dafür tragen, daß namentlich die idealen 
Errungenschaften der Kultur auch den niederen 
Volksmassen, insbesondere dem Arbeiterstande, 
oweit als möglich zugute kommen, indem der 
Staat die philanthropischen Bestrebungen in Er- 
richtung von guten Volksbibliotheken und Lese- 
hallen, Fortbildungskursen und Wohlfahrtsanstal- 
ten u. dgl. tatkräftig unterstützt und so zur Ver- 
breitung von christlicher Bildung und Gesittung in 
den weitesten Volkskreisen beiträgt. Zum Ganzen 
vgl. Kardinal Newman, On the Idea of an Uni- 
versity (London 1852); v. Nostitz-Rieneck S. J., 
Das Problem der K. (1888); G. Grupp, System 
u. Geschichte der K. 1 (1892); Rob. Flint, Histor). 
of the Philosophy of History (London 1893); 
W. Lexis, Das Wesen der K., in „Kultur der 
Gegenwart“ von P. Hinneberg, TI 1 1 (19061, 
1 ff; J. Mausbach, Die Ethik des hl. Augustinus 
1 (1909) 264 ff. 
II. Kulturentwichklung. Da der Kultur- 
fortschritt aus geistigen Triebkräften hervorgeht 
und auf sittlichen Grundlagen ruht, so ist er schon 
im Wesen des Menschen begründet, wenn er auch 
von materiellen Vorbedingungen und äußern Vor- 
aussetzungen nicht unabhängig ist. 
1. Erfahrungsgemäß bleibt das seinem In- 
stinkte überlassene und von der Mutter Natur mit 
allem Nötigen ausgestattete Tier in seinem Tun 
und Lassen sich ewig gleich; die verblüffendsten 
Dressurkünste offenbaren nicht so sehr den geistigen 
Fortschritt der Tiere als die Intelligenz des ab- 
richtenden Künstlers. Im ersten Funken, den der 
Urmensch aus dem Kiesel schlug, blitzte auch schon 
das Feuer des Geistes hervor, seine turmhohe 
Uberlegenheit über das Tier offenbarend, von dem 
er durch seine ganze Kultur wie durch eine un- 
überbrückbare Kluft getrennt bleibt. Nur vom 
Menschen gibt es eben darum eine Kultur- 
geschichte, deren dreifache Aufgabe es ist, die 
Kulturentwicklung in ihrem Verlaufe historisch 
darzustellen, nach ihren Ursachen und Zusammen- 
hängen pragmatisch zu erforschen und in ihrem 
Werte philosophisch zu würdigen. Wenn zur Be- 
wältigung der ersten Aufgabe nichts weiter als 
das Rüstzeng des unbestechlichen und gewissen- 
—
	        
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