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Mittelalter war der Arbeiter trotz der vielen Ma-
rien= und Heiligenfeste, auf welche die Gilden und
Zünfte große Stücke hielten, jedenfalls glücklicher
als heute, wo er unter der sozialdemokratischen
Verhetzung aus seiner Unzufriedenheit nicht mehr
herauskommt. Ob die Vielheit gebotener Feiertage
insbesondere für die wirtschaftliche Rückständigkeit
der deutschen Katholiken, die ja nicht viele Mil-
lionäre in ihren Reihen zählen, verantwortlich zu
machen ist, dürfte schwer festzustellen sein. Jeden-
falls ist die Tatsache selbst zu beklagen; denn ohne
Reichtum fehlt eine der Möglichkeiten, um auf
die moderne Kultur im Geiste der katholischen
Weltanschauung erfolgreich einzuwirken. Einen
großen Teil der Schuld wird man zweifellos auf
die Säkularisation der Kirchengüter abwälzen
dürfen, welche mit der wirtschaftlichen Stellung
der Kirche und der Klöster — wie eben jetzt wieder
in Frankreich — auch die Katholiken dauernd
schädigte und ihnen Vorteile und Gelegenheiten
entzog, die der durch die „tote Hand“ reich ge-
wordene Staat nunmehr andern zuwendete. Daß
der Katholizismus als solcher nicht die Schuld
trägt, beweist das unter katholischer Herrschaft zu
riesiger Höhe emporgeblühte Belgien. Wäre übri-
gens der Reichtum als Frucht des intensivsten
Wirtschaftslebens zugleich das Kriterium höchster
Kulturentfallung oder gar ein Beweis für die gött-
liche Wahrheit einer bestimmten Konfession, so
könnte man auch dem Protestantismus die Palme
nicht zuerkennen, da erfahrungsgemäß das Juden-
tum es ist, das mit höchstem Geschäftsfleiß auch
den wirksamsten Wettbewerb mit Konkurrenten
verbindet. Gewiß ist der aus Erbschaft oder ehr-
licher Arbeit hervorgewachsene Reichtum, dessen
sittlichen Charakter schon Augustinus gegen die
hyperaszetischen Pelagianer warm verteidigte, ein
schätzenswertes Gut. Aber oft ist er auch eine Ge-
fahr und ein Übel, wenn er die ethischen und re-
ligiösen Kulturwerte hintansetzt. Kann man zwar
die veraltete Ubertreibung des belgischen National-
ökonomen Ch. Périn: C'est le mépris de la
richesse qdui engendre la richesse, nicht bil-
ligen, so fördert doch die Kirche den allgemeinen
Wohlstand dadurch, daß sie nicht nur den Müßig-
gang verdammt und die Arbeit befiehlt, sondern
auch die kostspielige Genußsucht und Verschwen-
dung nicht minder als Laster brandmarkt wie die
unersättliche Habsucht.
Mit der vernünftigen Hochschätzung des Reich-
tums darf nicht Hand in Hand gehen die Ver-
achtung der Armut, dieser beständigen und un-
ausrottbaren Begleiterscheinung jeder Kultur. Der
Zusammenfluß des Kapitals in den Händen we-
niger Ubermillionäre sowie die hiermit zusammen-
hängende Aufsaugung des Mittelstandes ist nach
dem Urteil der Volkswirtschaftslehrer eines der
unerfreulichsten Symptome der modernen Kultur.
Die Spannung zwischen Kapital und Arbeit hat
das Proletariat geschaffen und eine Art Massen-
armut erzeugt, die durch den Glanz technischer
Kultur.
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Erfindungen nicht verdeckt werden kann. Diese in
ihrer ganzen Breite aufgerollte sog. soziale
Frage hat die Welt in eine Krise hineingeführt,
wie sie seit dem Beginn des Christentums in solcher
Schärfe nicht mehr hervorgetreten war. Wäre die
soziale Frage eine bloße „Magenfrage“ oder ein
rein wirtschaftliches Problem, so könnte viel-
leicht der arbeiterfreundliche Staat oder das hoch-
sinnige Großkapital ihre Lösung allein herbeiführen.
Weil aber auch sittlich = religiöse Momente mit
hineinspielen, so kann man der Mithilfe der Kirche
und der christlichen Konfessionen schlechterdings
nicht entraten. Wie zur Zeit der Völkerwande-
rung, so muß und wird auch jetzt das Heil von
der Kirche kommen. Damals hat „die Kirche der
Armen“ die Verachtung der Armut, dieses ingens
vitium der alten Römer, in Verehrung für die
Armut umgewandelt, die erste christliche Armen-
pflege organisiert, Armenhäuser errichtet und den
Reichen das Almosen zur Pflicht gemacht. Auch
heute noch predigt sie im Gelübde freiwilliger
Armut, das ihre Ordensgesellschaften ablegen, daß
Armut keine Schande ist und niemand klein macht
vor Gott. Ein Netz von Armen= und Waisen-
häusern, Kranken- und Irrenanstalten, die unter
Leitung werktätiger Orden stehen, überzieht die
Länder, um Not und Elend zu lindern. Der un-
ermeßliche Kultursegen, den die Befolger der
„Evangelischen Räte“ auf der ganzen Erde ver-
breiten, wiegt alle Tonnen Goldes auf, welche die
Banken in ihren Tresors aufbewahren. Aber wäh-
rend die Kirche das eine Auge liebevoll auf den
Armen und Verlassenen ruhen läßt, erhebt sie das
andere ermunternd und anfeuernd auf die Reichen
und Großen, indem sie jeden wirtschaftlichen Fort-
schritt und alle neuen Erfindungen lebhaft und
freudig begrüßt. Unlängst hat noch Papst Leo XIII.
in seiner Enzyklika Immortale Dei vom 1. Nov.
1885 der Kirche das Zeugnis ausgestellt: Quibus
in studiis non adversatur Ecclesia, si quid
mens repererit novi: non repugnat quin plura
duaerantur ad decus commoditatemque vitae:
immo inertiae desidiaeque inimicamagnopere
vult, ut hominum ingenia uberes ferant ex-
ercitatione et cultura fructus (vgl. Denzinger-
Bannwart, Enchirid. L1019087 n. 1879). Diese
Worte atmen keine Kulturscheu, sondern Kultur-
begeisterung. Vgl. Montalembert, Die Mönche
des Abendlandes (1853); F. de Champagny, La
charité chrétienne dans les premiers siecles
de I’Eglise (Par. 1856); Ratzinger, Geschichte
der kirchl. Armenpflege (1868); ders., Die Volks-
wirtschaft u. ihre sittlichen Grundlagen (21895);
F. Hitze, Kapital u. Arbeit (1880); H. Pesch S. J.
Die soziale Befähigung der Kirche (21897); F.
Walter, Sozialpolitik u. Moral (1899); A. Bigl-
mair, Die Beteiligung der Christen am öffent-
lichen Leben in vorkonstantinischer Zeit (1902);
Biederlack S. J., Die soziale Frage ((1904); J.
Mausbach, Kernfragenchristlicher Welt= u. Lebens-
auffassung ((1905); J. Seipelt, Die wirtschafts-