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ethischen Lehren der Kirchenväter (1907); O.
Schilling, Reichtum u. Eigentum in der altkirchl.
Literatur (1908); P. Jedzink, Einzelwirtschaft,
Gesellschaftsbildung u. Religionsübung in ihren
wechselseitigen Beziehungen (1908); v. Kostanecki,
Arbeit u. Armut (1909).
2. Wenn die katholische Religion überhaupt den
ganzen Menschen in all seinen Grundkräften, im
Verstande, Willen und Gemüt, erfaßt und allseitig
durchdringt, so läßt sich schon a priori erwarten,
daß sie auch auf die höhere Kultur in Wissenschaft,
Sittlichkeit und Kunst ihren wohllätigen Rück-
schlag ausübt. Während der sonst wohlmeinende
W. Lexis bezüglich der mittelalterlichen Kirche
offen zugibt, daß sie „für die Ausbreitung und
den Fortschritt der Kultur mit großartigem Er-
folge gewirkt hat“ (a. a. O. 5), behält er hingegen
dem heutigen Protestantismus die „schwere Auf-
gabe“ vor, „die Sache der im Syllabus verworfe-
nen modernen Bildung, der geistigen und sittlichen
Freiheit und der wissenschaftlichen Objektivität zu
vertreten und zugleich das Wesen des historischen
Christentums und denchristlichen Charakter unserer
Kulurr aufrecht zu erhalten“ (a. a. O. 49). Der
angerufene Satz 80 des Syllabus Pius' IX. vom
8.Dez. 186 4lautet:Romanus Pontifex potest ac
debet cum progressu, cum liberalismo et Ccum
recenti civilitate sese reconciliare et com-
ponere (s. Denzinger-Bannwart a. a. O. n. 1780).
Schlägt man aber die Allokution Pius'’ IX. vom
16. März 1861 auf, aus welcher der verurteilte Satz
gezogen ist, so findet man, daß der Syllabus nur
jene sog. Zivilisation ablehnt, die es bei ausge-
sprochener Kirchenfeindlichkeit auf die Ausschal-
ung der Kirche als einer Kulturmacht abgesehen
hat (Näheres s. bei Ehrhard a. a. O. 39 ff). Das
verhängnisvolle Mißverständnis wäre selbst dann
mit Händen zu greifen, wenn der sog. „Neue
Syllabus“ Pius' X. vom 3. Juli 1907 die gerügte
falsche Auslegung auch nicht noch eigens verurteilt
hätte. Dieser neueste unkatholische Satz lautet:
Ecclesiasese praebet scientiarum naturalium
et theologicarum progressibus infensam ((.
Denzinger-Bannwart a. a. O. u. 2057). Folg-
lich will die Kirche gegen die „Fortschritte der na-
türlichen und theologischen Wissenschaften“ sich
nicht feindlich verhalten. Das Gegenteil liegt
auch zu klar am Tage.
a) Von allen Wissenschaften schätzt die Kirche
keine so hoch als ihre eigne Theologie, welche
von Augustinus aufwärts bis zum „Fürsten der
Scholastik“, Thomas von Aquin, liebevoll aus-
gebildet und durch die Theologen auch der folgen-
den Jahrhunderte zu einem majestätischen Baum
großgezogen wurde. Diese sog. scholastische Theo-
logie mit ihren Hilfswissenschaften gleicht nicht
einem erstarrten Petrefakt, wie das griechische
Schisma oder der Islam, sondern einer lebendigen
Pflanze, die im Triebsaft der durch den Heiligen
Geist geleiteten und vor Irrtum geschützten Kirche
immer neue Aste treibt, Blüten hervorbringt und
Kultur.
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reiche Früchte trägt. Es kann keinen verhängnis-
volleren Irrtum geben als die weiwerbreitete
Meinung, als ob die päpstlichen Vorschriften über
die Scholastik die Zurückschraubung des heutigen
Bildungsstandes auf die Rückständigkeiten des
13. Jahrh. bezweckten. Wie der an sich unver-
änderliche Glaubensinhalt selbst einer fortschreiten-
den Dogmenentwicklung im Sinne des Vinzenz
von Lerin unterliegt, so heißt auch für die Theo-
logie das Prinzip nicht Stillstand und Erstarrung,
sondern Fortschritt und Leben. Was immer die
moderne Forschung an erprobten Wahrheiten auf
historischem, archäologischem, dogmen= und reli-
gionsgeschichtlichem Gebiet zutage fördert, das
weist die katholische Theologie nicht stolz zurück,
sondern assimiliert es mit ihrem Wesen, um ins
Weite zu wachsen und sich immer mehr zu ver-
vollkommnen. Nur gegen eines sträubt sie sich:
gegen die Aufnahme heterogener, der uralten
Glaubenshinterlage widersprechender, außerhalb
ihres spezifischen Entwicklungsgesetzes liegender
Elemente, die einen Selbstvergistungsprozeß ein-
leiten würden. So wenig dem Wachstum einer
Lilie die Lebens= und Entwicklungsgesetze der
Rose aufgezwungen werden können, ohne ihr
Wesen zu zerstören, ebensowenig läßt sich die katho-
lische Theologie auf Bahnen abdrängen, die auf
die Leugnung oder Gefährdung ihrer feststehenden
Dogmen hinauslaufen. Und wahrlich kann das
wenig verlockende Beispiel der freisinnigen Theo-
logie sie nicht zur Nachahmung reizen, wenn der
Rabbiner L. Baeck die protestantische Leugnung
der Trinität und Gottheit Christi, der Erbsünde
und Erlösung usw. als eine „Umkehr zum Juden-
tum“ begrüßt und in den „Wandlungen im mo-
dernen Protestantismus“ die Tendenz findet, „aus
dem Gedankenkreis der Kirche hinaus= und zu dem
Ideengebiet des Judentums hinzuführen“ (Korre-
spondenzblatt des Verbands der deutschen Juden
Nr 5 (Berlin 1909| 4). Aber die Alternative der
Zukunft lautet gewiß nicht: Entweder Christentum
oder Judentum, sondern viel radikaler: Entweder
Christentum oder Neuheidentum.
Was die profanen Wissenschaften betrifft, so
tritt die Kirche unentwegt ein für eine gesunde,
starke und lebenskräftige Metaphysik, die den
Unterbau ihrer spekulativen Theologie bildet. Im
Aristotelismus mit seiner gediegenen, abgeklärten
Gedankenfülle und begriffsscharfen Dialektik ent-
deckte sie längst jene „immerwährende Philosophie“,
deren Ergebnisse von den edelsten Geistern des
Menschengeschlechtes jederzeit anerkannt wurden
und auf die der Denkgeist immer wieder zurück-
kommt (vgl. O. Willmann, Geschichte des Idealis-
mus 13 Bde, 1908.)). Die modernen Systeme
des Monismus, Pantheismus, Hylozoismus,
Materialismus usw. bedeuten keinen Fortschritt
des Denkens, sondern den Rückfall in längst über-
wundene, altheidnische Weltanschauungen. Nir-
gends aber zeigt sich die Kirche so groß, als wo
sie die Kräfte und Rechte der Vernunft gegen ihre