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Widersacher verteidigt, wie ihr ablehnender Be-
scheid gegen den Skeptizismus des Nikolaus de
Ultricuria (1348 n. Chr.), die Theorie der, doppel-
ten Wahrheit“ in der Renaissancephilosophie, die
lutherische „Klotz-, Stock= und Steintheorie", die
Kantsche Scheidung von Glauben und Wissen in
„zwei getrennte Haushaltungen“, den extremen
Traditionalismus dartut. Auch ihr neuester
Kampf wider den Modernismus ist im letzten
Grunde nichts anderes als das kraftvolle Ein-
treten für die innere Vernünftigkeit des Glaubens,
für die Harmonie zwischen Wissenschaft und Offen-
barung und für die Fähigkeit des Verstandes, auch
das Übersinnliche, Geistige und Göttliche aus
eigner Kraft zu erkennen. Indem sie ferner hoch-
gemut kämpft für die Einheit, Ewigkeit und Un-
veränderlichkeit der Wahrheit, erweist sie sich nicht
als Unterdrückerin, sondern als Vorkämpferin
der Wissenschaft. So hält sie die richtige Mitte
zwischen dem wissensstolzen Rationalismus und
dem vernunftfeindlichen Skeptizismus in jeder
Form, möge er sich nun Pyrrhonismus, Kritizis-
mus, Positivismus, Agnostizismus, Relativismus,
Pragmatismus oder sonstwie nennen.
Die Leistungsfähigkeit der Kirche mit Bezug
auf die übrigen Wissenschaften erhellt aus der
Tatsache, daß das ganze Bildungswesen bis zum
Ende des Mittelalters, also fast ein ganzes Jahr-
tausend, in den Händen der Geistlichkeit lag. Man
braucht nur an Pflanzstätten der Kultur wie
St Gallen, Reichenau, Fulda, Korvey und
Cluny zu erinnern. Der Schöpfer des deutschen
Schulwesens war Hrabanus Maurus (gest. 856),
der auch schon das Griechische in die Klosterschulen
einführte. Nur die Liebe zur Wissenschaft pflanzte
die Universitäten, die im Schatten der Kirche
emporblühten und von den Pöäpsten begünstigt,
geschützt, privilegiert und vielfach dotiert wurden.
Fast alles, was unsere heutigen Staats= und
Universitätsbibliotheken an kostbaren Handschriften
verwahren, ist das Werk fleißiger Mönche, die mit
unsagbarem Fleiß die klassische Literatur des Alter-
tums über die Stürme der Völkerwanderung zu
uns herübergerettet haben. Allgemein galt der
Grundsatz: Ein Kloster ohne Bibliothek ist
eine Burg ohne Waffenkammer. Ganze Bücher-
bestände in unsern Staatsanstalten sind nichts
anderes als säkularisierte Klosterbibliotheken. Die
Begründer der deutschen Prosa waren die großen
Prediger und Mystiker des Mittelalters: Bruder
Berthold (gest. 1272), Meister Eckhart (gest. 1327),
Joh. Tauler (gest. 1361), Heinrich Suso (gest.
1366). Jan van Ruysbroek (gest. 1381), Geiler
von Kaysersberg (gest. 1510). Als Vorläufer der
heutigen Kultur begrüßen wir den Kardinal Niko-
laus von Kues (gest. 1464) und den Domherrn
Koppernikus (gest. 1543), den Begründer der mo-
dernen Astronomie, in der namentlich der
Jesuitenorden Hervorragendes leistete. Die Geo-
graphie und Ethnologie hat den Kreuz-=
zügen und dem Entdecker Amerikas, Kolumbus,
Kultur.
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sowie den katholischen Missionen unendlich viel
zu danken. Die berühmte Mappa mundi bes
Fra Mauro (gest. 1459) war die erste Weltkarte.
Auch die Sprachwissenschaft fand in der
Kirche verständnisvolle Pflege. Schon im Jahre
1312 wurden auf Befehl des Papstes Klemens V.
an den Universitäten Lehrstühle für die orien-
talischen Sprachen gegründet. Der Schöpfer der
vergleichenden Sprachforschung ist der spanische
Jesuit Hervas y Panduro (gest. 1809) und der
Karmelit Fra Paolo di San Bartolomeo der Ver-
fasser der ersten Sanskritgrammatik (1790). Die
historische Kritik, der Stolz unseres Jahr-
hunderts, wurde schon von Kardinal Baronius
(gest. 1607) gehandhabt und später von den
Maurinern und Bollandisten ausgebildet. So
haben alle Wissenschaften in der Kirche Pflege
und Förderung erfahren, auch die Naturwissen-
schaften, wenn auch erst in zweiter Linie.
Dabei ging die Kirche jederzeit von der richtigen
Überzeugung aus, daß zwischen dem Glauben und
der Wissenschaft kein Widerspruch, sondern völlige
Harmonie herrscht, und daß, wo der Schein der
Unvereinbarkeit in Einzelfällen entsteht, entweder
die irrtümliche Auslegung des kirchlichen Dogmas
oder die Kompetenzüberschreitung der Wissenschaft
die Schuld daran trägt (vgl. Vaticanum sess. III,
cap. 4, bei Denzinger-Bannwart a. a. O.
Mn. 1797). In ihrer gegenseitigen Handreichung
aber verhalten sich Vernunft und Glaube so, daß
einerseits „die rechte Vernunft die Glaubens-
grundlagen beweist und wissenschaftlich ausbaut“
und anderseits „der Glaube die Vernunft von
Irrtümern befreit, schützt und mit vielseitiger
Kenntnis ausrüstet“; die Würde der Wissenschaft
wird gewahrt, indem sie „innerhalb ihres eignen
Gebietes ihre eigentümlichen Prinzipien und
Methoden anwendet“, wenn auch bei aller „An-
erkennung dieser gerechten Freiheit“ davor ge-
warnt wird, daß „sie im Widerspruch mit der
göttlichen Offenbarung Irrtümer in sich auf-
nehme und durch Grenzüberschreitung das Gebiet
des Glaubens besetze und verwirre“ (Vaticanum
a. a. O., bei Denzinger-Bannwart n. 1799). Der
einzige Fall, wo man der kirchlichen Oberbehörde
ein Versehen gegen die Wissenschaft vorwerfen kann,
ist der berühmte Galilei-Streit, den jedoch die
neuesten Aktenveröffentlichungen in einem wesent-
lich andern Lichte erscheinen lassen, als er bisher
dargestellt worden ist (ogl. Ad. Müller S. J.,
Galileo Galilei und das koppernikanische Welt-
system (1909I). Was insbesondere die Natur-
wissenschaften angeht, deren Wichtigkeit für
die Bildung und den Fortschritt Leo XIII. und
Pius X rückhaltlos anerkannten, so haben sich auch
unter den Katholiken bis in die jüngste Zeit Bahn-
brecher und Pfadfinder gefunden, und nichts ist
historisch so falsch als die oft gehörte Behauptung,
daß Naturforschung und Christentum sich aus-
schließen. Vgl. Zurla, Dei vantaggi della Reli-
gione cattolica alla Geografia (Rom 1822);