Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Widersacher verteidigt, wie ihr ablehnender Be- 
scheid gegen den Skeptizismus des Nikolaus de 
Ultricuria (1348 n. Chr.), die Theorie der, doppel- 
ten Wahrheit“ in der Renaissancephilosophie, die 
lutherische „Klotz-, Stock= und Steintheorie", die 
Kantsche Scheidung von Glauben und Wissen in 
„zwei getrennte Haushaltungen“, den extremen 
Traditionalismus dartut. Auch ihr neuester 
Kampf wider den Modernismus ist im letzten 
Grunde nichts anderes als das kraftvolle Ein- 
treten für die innere Vernünftigkeit des Glaubens, 
für die Harmonie zwischen Wissenschaft und Offen- 
barung und für die Fähigkeit des Verstandes, auch 
das Übersinnliche, Geistige und Göttliche aus 
eigner Kraft zu erkennen. Indem sie ferner hoch- 
gemut kämpft für die Einheit, Ewigkeit und Un- 
veränderlichkeit der Wahrheit, erweist sie sich nicht 
als Unterdrückerin, sondern als Vorkämpferin 
der Wissenschaft. So hält sie die richtige Mitte 
zwischen dem wissensstolzen Rationalismus und 
dem vernunftfeindlichen Skeptizismus in jeder 
Form, möge er sich nun Pyrrhonismus, Kritizis- 
mus, Positivismus, Agnostizismus, Relativismus, 
Pragmatismus oder sonstwie nennen. 
Die Leistungsfähigkeit der Kirche mit Bezug 
auf die übrigen Wissenschaften erhellt aus der 
Tatsache, daß das ganze Bildungswesen bis zum 
Ende des Mittelalters, also fast ein ganzes Jahr- 
tausend, in den Händen der Geistlichkeit lag. Man 
braucht nur an Pflanzstätten der Kultur wie 
St Gallen, Reichenau, Fulda, Korvey und 
Cluny zu erinnern. Der Schöpfer des deutschen 
Schulwesens war Hrabanus Maurus (gest. 856), 
der auch schon das Griechische in die Klosterschulen 
einführte. Nur die Liebe zur Wissenschaft pflanzte 
die Universitäten, die im Schatten der Kirche 
emporblühten und von den Pöäpsten begünstigt, 
geschützt, privilegiert und vielfach dotiert wurden. 
Fast alles, was unsere heutigen Staats= und 
Universitätsbibliotheken an kostbaren Handschriften 
verwahren, ist das Werk fleißiger Mönche, die mit 
unsagbarem Fleiß die klassische Literatur des Alter- 
tums über die Stürme der Völkerwanderung zu 
uns herübergerettet haben. Allgemein galt der 
Grundsatz: Ein Kloster ohne Bibliothek ist 
eine Burg ohne Waffenkammer. Ganze Bücher- 
bestände in unsern Staatsanstalten sind nichts 
anderes als säkularisierte Klosterbibliotheken. Die 
Begründer der deutschen Prosa waren die großen 
Prediger und Mystiker des Mittelalters: Bruder 
Berthold (gest. 1272), Meister Eckhart (gest. 1327), 
Joh. Tauler (gest. 1361), Heinrich Suso (gest. 
1366). Jan van Ruysbroek (gest. 1381), Geiler 
von Kaysersberg (gest. 1510). Als Vorläufer der 
heutigen Kultur begrüßen wir den Kardinal Niko- 
laus von Kues (gest. 1464) und den Domherrn 
Koppernikus (gest. 1543), den Begründer der mo- 
dernen Astronomie, in der namentlich der 
Jesuitenorden Hervorragendes leistete. Die Geo- 
graphie und Ethnologie hat den Kreuz-= 
zügen und dem Entdecker Amerikas, Kolumbus, 
  
Kultur. 
  
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sowie den katholischen Missionen unendlich viel 
zu danken. Die berühmte Mappa mundi bes 
Fra Mauro (gest. 1459) war die erste Weltkarte. 
Auch die Sprachwissenschaft fand in der 
Kirche verständnisvolle Pflege. Schon im Jahre 
1312 wurden auf Befehl des Papstes Klemens V. 
an den Universitäten Lehrstühle für die orien- 
talischen Sprachen gegründet. Der Schöpfer der 
vergleichenden Sprachforschung ist der spanische 
Jesuit Hervas y Panduro (gest. 1809) und der 
Karmelit Fra Paolo di San Bartolomeo der Ver- 
fasser der ersten Sanskritgrammatik (1790). Die 
historische Kritik, der Stolz unseres Jahr- 
hunderts, wurde schon von Kardinal Baronius 
(gest. 1607) gehandhabt und später von den 
Maurinern und Bollandisten ausgebildet. So 
haben alle Wissenschaften in der Kirche Pflege 
und Förderung erfahren, auch die Naturwissen- 
schaften, wenn auch erst in zweiter Linie. 
Dabei ging die Kirche jederzeit von der richtigen 
Überzeugung aus, daß zwischen dem Glauben und 
der Wissenschaft kein Widerspruch, sondern völlige 
Harmonie herrscht, und daß, wo der Schein der 
Unvereinbarkeit in Einzelfällen entsteht, entweder 
die irrtümliche Auslegung des kirchlichen Dogmas 
oder die Kompetenzüberschreitung der Wissenschaft 
die Schuld daran trägt (vgl. Vaticanum sess. III, 
cap. 4, bei Denzinger-Bannwart a. a. O. 
Mn. 1797). In ihrer gegenseitigen Handreichung 
aber verhalten sich Vernunft und Glaube so, daß 
einerseits „die rechte Vernunft die Glaubens- 
grundlagen beweist und wissenschaftlich ausbaut“ 
und anderseits „der Glaube die Vernunft von 
Irrtümern befreit, schützt und mit vielseitiger 
Kenntnis ausrüstet“; die Würde der Wissenschaft 
wird gewahrt, indem sie „innerhalb ihres eignen 
Gebietes ihre eigentümlichen Prinzipien und 
Methoden anwendet“, wenn auch bei aller „An- 
erkennung dieser gerechten Freiheit“ davor ge- 
warnt wird, daß „sie im Widerspruch mit der 
göttlichen Offenbarung Irrtümer in sich auf- 
nehme und durch Grenzüberschreitung das Gebiet 
des Glaubens besetze und verwirre“ (Vaticanum 
a. a. O., bei Denzinger-Bannwart n. 1799). Der 
einzige Fall, wo man der kirchlichen Oberbehörde 
ein Versehen gegen die Wissenschaft vorwerfen kann, 
ist der berühmte Galilei-Streit, den jedoch die 
neuesten Aktenveröffentlichungen in einem wesent- 
lich andern Lichte erscheinen lassen, als er bisher 
dargestellt worden ist (ogl. Ad. Müller S. J., 
Galileo Galilei und das koppernikanische Welt- 
system (1909I). Was insbesondere die Natur- 
wissenschaften angeht, deren Wichtigkeit für 
die Bildung und den Fortschritt Leo XIII. und 
Pius X rückhaltlos anerkannten, so haben sich auch 
unter den Katholiken bis in die jüngste Zeit Bahn- 
brecher und Pfadfinder gefunden, und nichts ist 
historisch so falsch als die oft gehörte Behauptung, 
daß Naturforschung und Christentum sich aus- 
schließen. Vgl. Zurla, Dei vantaggi della Reli- 
gione cattolica alla Geografia (Rom 1822);
	        
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