Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Straße gesetzt hätte. Das unbestreitbare Verdienst 
der Kirche bleibt es aber, durch ihre tröstliche Lehre 
von der Gotteskindschaft die wirtschaftliche und 
persönliche Lage der Sklaven erträglich gestaltet 
und den heidnischen Begriff der Sklaverei seines 
anstößigen Inhaltes beraubt zu haben. Kirchliche 
Orden, wie z. B. die Trinitarier, widmeten sich 
der Befreiung der Gefangenen und dem Loskauf 
der Sklaven. Nach heutigem Staatsrecht gehört 
das Recht der freien Persönlichkeit, bei dessen Er- 
kämpfung in sehr lobenswerter Weise auch außer- 
kirchliche Kräfte sich beteiligten, zu den Grund- 
rechten des Menschen. Eng hängt damit zusam- 
men die Kultur der Persönlichkeit, welche die 
Neuzeit mit besonderem Nachdruck geltend macht. 
Natürlich kann darunter nicht das schrankenlose 
Sichausleben aller persönlichen Triebe und Nei- 
gungen, sondern nur die freie Entfaltung eines 
starken sittlichen Charakters verstanden werden, 
der sich selbst und die Außendinge mit innerer 
Freiheit beherrscht und sich dem Gemeinwohl nicht 
überordnet. Ein wahrhaft großer und freier 
Mann wird sein Wissen und Können selbstlos 
auch in den Dienst der Allgemeinheit stellen und 
in der Autorität keine Anmaßung, im schuldigen 
Gehorsam keine Knechtschaft, in der Treue keine 
Selbsterniedrigung erkennen. Auch für den Er- 
werb einer solchen persönlichen Kultur gibt die 
katholische Religion dem Individuum die zug- 
kräftigsten Motive in Verbindung mit wirksamen 
Gnadenmitteln an die Hand. Die katholische 
Sittlichkeit legt, wie keine andere Konfession, das 
größte Gewicht auf die geschlechtliche Reinheit, 
wohl wissend, daß nur ein „keusches Geschlecht im 
Tugendglanze"“ die Erde schon in ein wahres 
Paradies umzuschaffen vermöchte. Wo in der 
Offentlichkeit oder im geheimen die verderbliche 
Unzucht das Zepter führt, wo drohende Deka- 
denzerscheinungen, wie Nacktkultur, Nackttänze, 
Nuditätenkult usw., die sittlichen Begriffe des 
Volkes verkehren, da ist der Anfang vom Ende 
der sittlichen und jeder Kultur. Die trostlose Ver- 
seuchung der unverheirateten Jugend durch Ge- 
schlechtskrankheiten sowie die willkürliche Beschrän- 
kung der Kinderzahl in der Ehe, welch letztere in 
Frankreich unter dem Namen des Zweikinder- 
sostems zu einer nationalen Katastrophe zu führen 
droht, hat vom staatlichen Standpunkt den be- 
sonders beklagenswerten Nachteil, daß der wach- 
sende Mangel eines gesunden, kräftigen und zahl- 
reichen Nachwuchses von selbst die natürlichen 
OQuellen verstopft, aus denen die zur Vaterlands- 
verteidigung bereite Armee ihre waffenfähigen 
Mannschaften zieht. Indem die katholische Moral 
mit ihrer großen Strenge in Verdammung jeg- 
licher Art von Unsittlichkeit gerade diesem übel 
wirksam steuert, trägt sie indirekt ungeheuer viel 
zum Bestande und zur Wohlfahrt des Staates bei. 
Auch die katholische Auffassung von der Ein- 
heit, Unauflöslichkeit und Heiligkeit der Ehe als 
des Grundsteines der Familie schafft ein Bollwerk 
Kultur. 
  
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für die staatliche Ordnung. Mit Recht nennt 
Goethe die Ehe „den Grund aller sittlichen Gesell- 
schaft, den Anfang und den Gipfel der Kultur“. 
Indem die Kirche die christliche Ehe als ein hei- 
liges Sakrament verehrt und dem Manne im Ehe- 
leben die gleichen Rechte und Pflichten auferlegt 
wie dem Weibe, hat sie die Würde der Frauen 
aus der heidnischen Knechtung errettet und durch 
das Verbot der Polygamie und Ehescheidung dem 
Zerfall der Familie einen mächtigen Riegel vor- 
geschoben. Das Gelübde ewiger Jungfräulichkeit, 
welches die katholischen Ordensschwestern ablegen, 
umgibt das christliche Weib mit einem ungleich 
höheren Nimbus unnahbarer Verehrungswürdig- 
keit als die heidnischen Vestalinnen Roms und 
macht die reichen Kräfte des edeln Frauenherzens 
frei für selbstlose Kulturarbeit im Dienste der 
leidenden und arbeitenden Menschheit. In der 
Jungfrau Maria, diesem höchsten Frauenideal 
des Christentums, besitzt das starke Weib jeglichen 
Standes sein Vorbild, seine Kraft und seinen 
Schutz. Auf der Familie ruht die Gesellschaft, der 
Staat. Das ganze Staatswesen ist durch die 
sittliche Kulturtätigkeit der Kirche innerlich ver- 
edelt und gefördert worden, insofern einerseits der 
schrankenlose Staatsabsolutismus und der uner- 
trägliche Despotismus der Fürsten, diese Geißel 
der antiken Völker, nachhaltig gebrochen und ander- 
seits die Staatsgewalt mit dem Schimmer des 
Gottesgnadentums umgeben wurde. Ohne die 
schirmende und wehrende Hand des Papsttums 
wäre sowohl die bürgerliche Freiheit gegen Ty- 
rannei und staatliche Willkür als auch die Autori- 
tät der Fürsten gegen Ungehorsam und Empörung 
schutzlos geblieben. Wenn die großen Richtlinien, 
die unlängst Papst Leo XIII. in seinen herrlichen 
Rundschreiben über die christliche Staatsverfassung 
(Enzyklika Immortale Dei vom 1. Nov. 1885) 
und über die Grenzen der Freiheit (Enzyklika Li- 
bertas vom 20. Juni 1888) entworfen, überall 
von Regierenden und Regierten befolgt würden, 
so stände es besser um die Staaten und Völker, 
welche infolge Mißachtung der christlichen Grund- 
sätze mit allerhand staatsfeindlichen Elementen, 
mit Sozialismus, Anarchismus und Nihilismus. 
zu kämpfen haben. Zum modernen Rechtsstaat 
stellt sich die Kirche nicht, wie der Liberalismus 
grundlos behauptet, in einen feindlichen Gegen- 
satz. Dies würde erst dann geschehen, wenn die 
Kirche die Herrschaft über den Staat auch in welt- 
lichen Dingen beanspruchte und das ganze staat- 
liche Gebiet der kirchlichen Kontrolle unterwürfe. 
Die päpstliche Universalmonarchie, diese große 
Schöpfung des Mittelalters, war lediglich eine 
zeitgeschichtliche Erscheinung, die mit den verän- 
derten Zeitverhältnissen und der Säkularisation 
der Staatsidee von selbst in der Versenkung ver- 
schwinden mußte. Wiederholt hat Papst Leo XIII. 
die Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Staa- 
tes feierlich anerkannt (ugl. Enzyklika Sapientiae 
christianae vom 10. Jan. 1890: Ecclesia et
	        
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