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Straße gesetzt hätte. Das unbestreitbare Verdienst
der Kirche bleibt es aber, durch ihre tröstliche Lehre
von der Gotteskindschaft die wirtschaftliche und
persönliche Lage der Sklaven erträglich gestaltet
und den heidnischen Begriff der Sklaverei seines
anstößigen Inhaltes beraubt zu haben. Kirchliche
Orden, wie z. B. die Trinitarier, widmeten sich
der Befreiung der Gefangenen und dem Loskauf
der Sklaven. Nach heutigem Staatsrecht gehört
das Recht der freien Persönlichkeit, bei dessen Er-
kämpfung in sehr lobenswerter Weise auch außer-
kirchliche Kräfte sich beteiligten, zu den Grund-
rechten des Menschen. Eng hängt damit zusam-
men die Kultur der Persönlichkeit, welche die
Neuzeit mit besonderem Nachdruck geltend macht.
Natürlich kann darunter nicht das schrankenlose
Sichausleben aller persönlichen Triebe und Nei-
gungen, sondern nur die freie Entfaltung eines
starken sittlichen Charakters verstanden werden,
der sich selbst und die Außendinge mit innerer
Freiheit beherrscht und sich dem Gemeinwohl nicht
überordnet. Ein wahrhaft großer und freier
Mann wird sein Wissen und Können selbstlos
auch in den Dienst der Allgemeinheit stellen und
in der Autorität keine Anmaßung, im schuldigen
Gehorsam keine Knechtschaft, in der Treue keine
Selbsterniedrigung erkennen. Auch für den Er-
werb einer solchen persönlichen Kultur gibt die
katholische Religion dem Individuum die zug-
kräftigsten Motive in Verbindung mit wirksamen
Gnadenmitteln an die Hand. Die katholische
Sittlichkeit legt, wie keine andere Konfession, das
größte Gewicht auf die geschlechtliche Reinheit,
wohl wissend, daß nur ein „keusches Geschlecht im
Tugendglanze"“ die Erde schon in ein wahres
Paradies umzuschaffen vermöchte. Wo in der
Offentlichkeit oder im geheimen die verderbliche
Unzucht das Zepter führt, wo drohende Deka-
denzerscheinungen, wie Nacktkultur, Nackttänze,
Nuditätenkult usw., die sittlichen Begriffe des
Volkes verkehren, da ist der Anfang vom Ende
der sittlichen und jeder Kultur. Die trostlose Ver-
seuchung der unverheirateten Jugend durch Ge-
schlechtskrankheiten sowie die willkürliche Beschrän-
kung der Kinderzahl in der Ehe, welch letztere in
Frankreich unter dem Namen des Zweikinder-
sostems zu einer nationalen Katastrophe zu führen
droht, hat vom staatlichen Standpunkt den be-
sonders beklagenswerten Nachteil, daß der wach-
sende Mangel eines gesunden, kräftigen und zahl-
reichen Nachwuchses von selbst die natürlichen
OQuellen verstopft, aus denen die zur Vaterlands-
verteidigung bereite Armee ihre waffenfähigen
Mannschaften zieht. Indem die katholische Moral
mit ihrer großen Strenge in Verdammung jeg-
licher Art von Unsittlichkeit gerade diesem übel
wirksam steuert, trägt sie indirekt ungeheuer viel
zum Bestande und zur Wohlfahrt des Staates bei.
Auch die katholische Auffassung von der Ein-
heit, Unauflöslichkeit und Heiligkeit der Ehe als
des Grundsteines der Familie schafft ein Bollwerk
Kultur.
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für die staatliche Ordnung. Mit Recht nennt
Goethe die Ehe „den Grund aller sittlichen Gesell-
schaft, den Anfang und den Gipfel der Kultur“.
Indem die Kirche die christliche Ehe als ein hei-
liges Sakrament verehrt und dem Manne im Ehe-
leben die gleichen Rechte und Pflichten auferlegt
wie dem Weibe, hat sie die Würde der Frauen
aus der heidnischen Knechtung errettet und durch
das Verbot der Polygamie und Ehescheidung dem
Zerfall der Familie einen mächtigen Riegel vor-
geschoben. Das Gelübde ewiger Jungfräulichkeit,
welches die katholischen Ordensschwestern ablegen,
umgibt das christliche Weib mit einem ungleich
höheren Nimbus unnahbarer Verehrungswürdig-
keit als die heidnischen Vestalinnen Roms und
macht die reichen Kräfte des edeln Frauenherzens
frei für selbstlose Kulturarbeit im Dienste der
leidenden und arbeitenden Menschheit. In der
Jungfrau Maria, diesem höchsten Frauenideal
des Christentums, besitzt das starke Weib jeglichen
Standes sein Vorbild, seine Kraft und seinen
Schutz. Auf der Familie ruht die Gesellschaft, der
Staat. Das ganze Staatswesen ist durch die
sittliche Kulturtätigkeit der Kirche innerlich ver-
edelt und gefördert worden, insofern einerseits der
schrankenlose Staatsabsolutismus und der uner-
trägliche Despotismus der Fürsten, diese Geißel
der antiken Völker, nachhaltig gebrochen und ander-
seits die Staatsgewalt mit dem Schimmer des
Gottesgnadentums umgeben wurde. Ohne die
schirmende und wehrende Hand des Papsttums
wäre sowohl die bürgerliche Freiheit gegen Ty-
rannei und staatliche Willkür als auch die Autori-
tät der Fürsten gegen Ungehorsam und Empörung
schutzlos geblieben. Wenn die großen Richtlinien,
die unlängst Papst Leo XIII. in seinen herrlichen
Rundschreiben über die christliche Staatsverfassung
(Enzyklika Immortale Dei vom 1. Nov. 1885)
und über die Grenzen der Freiheit (Enzyklika Li-
bertas vom 20. Juni 1888) entworfen, überall
von Regierenden und Regierten befolgt würden,
so stände es besser um die Staaten und Völker,
welche infolge Mißachtung der christlichen Grund-
sätze mit allerhand staatsfeindlichen Elementen,
mit Sozialismus, Anarchismus und Nihilismus.
zu kämpfen haben. Zum modernen Rechtsstaat
stellt sich die Kirche nicht, wie der Liberalismus
grundlos behauptet, in einen feindlichen Gegen-
satz. Dies würde erst dann geschehen, wenn die
Kirche die Herrschaft über den Staat auch in welt-
lichen Dingen beanspruchte und das ganze staat-
liche Gebiet der kirchlichen Kontrolle unterwürfe.
Die päpstliche Universalmonarchie, diese große
Schöpfung des Mittelalters, war lediglich eine
zeitgeschichtliche Erscheinung, die mit den verän-
derten Zeitverhältnissen und der Säkularisation
der Staatsidee von selbst in der Versenkung ver-
schwinden mußte. Wiederholt hat Papst Leo XIII.
die Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Staa-
tes feierlich anerkannt (ugl. Enzyklika Sapientiae
christianae vom 10. Jan. 1890: Ecclesia et