Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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netenhause veranlaßt, durch generelle Verfügung 
an die Provinzial-Schulkollegien vom 29. Febr. 
1872 anzuordnen: „In den öffentlichen höheren 
Lehranstalten ist hinfort die Dispensation vom 
Religionsunterricht zulässig, sofern ein genügender 
Ersatz dafür nachgewiesen wird.“ Dann aber 
forderte er durch Schreiben vom 11. März 1872 
den Bischof auf, „den Widerspruch, in welchem 
jene Zensurdekrete (gegen Michelis und Wollmann) 
durch ihre bürgerliche Wirkung mit den Landes- 
gesetzen stehen, in geeigneter Weise zu beseitigen“, 
und wiederholte diese Zumutung am 21. Mai mit 
der weiteren Forderung einer Erklärung des Bi- 
schofs, „fortan die Staatsgesetze in ihrem vollen 
Umfange zu befolgen“. Beides lehnte der Bischof 
ab. Durch Erlaß Falks vom 25. Sept. 1872 
wurde über ihn die Temporaliensperre verhängt 
ohne Bezugnahme auf eine gesetzliche Bestimmung 
und mit der einfachen Begründung: „Die Staats- 
regierung vermog die Verantwortung dafür nicht 
weiter zu übernehmen, daß aus den Mitteln des 
Staates, dessen Gesetzen Sie sich nicht unbedingt 
unterwerfen, für Ihren Unterhalt Zahlungen ge- 
leistet werden.“ 
Zu einem ähnlichen Konflikt führte der Alt- 
katholizismus in Köln. Am 12. Jan. 1872 hatte 
der Kriegsminister den Altkatholiken auf deren 
Ansuchen die dortige katholische Garnisonkirche 
St Pantaleon zur Mitbenutzung überwiesen, und 
zwar ohne Einvernehmen mit dem katholischen 
Feldpropst Namszanowski. Letzterer untersagte 
dem Divisionspfarrer in Köln den weiteren Gottes- 
dienst in der Kirche, sobald diese von einem alt- 
katholischen Geistlichen benutzt sein werde. Nach- 
dem diese Voraussetzung eingetroffen, mied der 
Pfarrer die Kirche. Ein Erlaß des Kriegsministers 
an den Gouverneur von Köln vom 1. März da- 
gegen gab die Anweisung, „den katholischen 
Militärgottesdienst in der Pantaleonskirche wieder 
anzuordnen und demzufolge den Divisionspfarrer 
mit dem erforderlichen Befehle alsbald zu ver- 
sehen". Am 2. März wurde dieser Erlaß auch 
dem Feldpropst als „Militärbeamten"“ zugefertigt 
„mit der Auflage, die an den Divisionspfarrer 
ergangene, ihm die Abhaltung des Militärgottes- 
dienstes untersagende Verfügung unverzüglich wie- 
der zurückzunehmen“. Als dieser nicht Folge 
leistete, wurde er am 28. Mai 1872 durch Erlaß 
der Minister des Kriegs und des Kultus „suspen- 
diert“ mit der Begründung: „Demnach befinden 
Sie sich im Zustande der Auflehnung gegen die 
dienstlichen Anordnungen Ihrer vorgesetzten Be- 
hörde und haben Ihre Amtspflichten auf das 
schwerste verletzt.“ Im März 1873 wurde dann 
die Feldpropstei selbst aufgehoben, nachdem sie erst 
im Jahre 1868 als selbständiges kirchliches Amt 
errichtet worden war. 
Doch konnten weder diese noch andere Maß- 
regeln die Bischöfe von weiterem Vorgehen gegen 
altkatholische Professoren und Geistliche abhalten. 
Nicht erfolgreicher war auch der erste gesetzgeberische 
  
Kulturkampf ufw. 
  
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Versuch zugunsten der Altkatholiken. Auf Betreiben 
des bayrischen Kultusministers v. Lutz wurde durch 
Reichsgesetz vom 10. Dez. 1871 in das Straf- 
gesetzbuch für das Deutsche Reich ein neuer 8 180 a 
(Lex Lutzeana oder Kanzelparagraph)ein= 
geschaltet (ogl. Bd I. Sp. 229), welcher bezweckte, 
den „Mißbrauch der Kanzel“ auszuschließen und da- 
durch die Bekämpfung des Altkatholizismus in der 
katholischen Kirche unmöglich zu machen. Trotz 
aller Aufmerksamkeit der Polizeiorgane konnte 
dieses erste Ausnahmegesetz nur höchst selten zur 
Anwendung gebracht werden. Auch in Preußen 
begann die Gesetzgebung einzugreifen. Dort hatte 
schon im Jahre 1871 der Kultusminister v. Müh- 
ler ein „Gesetz betreffend die Beaufsichti- 
gung des Unterrichts- und Erziehungs- 
wesens“ ausgearbeitet, mit welchem Fürst 
Bismarck den „polonisierenden“ Bestrebungen der 
katholischen Geistlichkeit in Westpreußen und Posen 
entgegentreten wollte. Nachträglich trug Mühler 
Bedenken, diesen Entwurf vor dem Landtag zu 
begründen, und nahm deshalb seinen Abschied. 
Sein Nachfolger Falk brachte das Gesetz so- 
fort zustande. Mit dem Datum vom 11. März 
1872 wurde es publiziert. Es bestimmt: „Die 
Aufsicht über alle öffentlichen und Privat-Unter- 
richts= und Erziehungsanstalten steht dem Staate 
zu. Demgemäß handeln alle mit dieser Aussicht 
betrauten Behörden und Beamten im Auftrage 
des Staates.“ Damit war die Aufsicht des Staa- 
tes auch auf den Religionsunterricht ausgedehnt 
und die bisherige Mitaufsicht der Kirche über den 
gesamten Unterricht abgeschafft. Fast allen katho- 
lischen Geistlichen wurde nunmehr die Lokal= und 
Kreisschulaufsicht entzogen; die Schule wurde 
fortan rücksichtslos zur Bekämpfung der katholi- 
schen Kirche benutzt, insbesondere durch „Simul- 
tanisierung“ der Volksschulen, d. h. Vereinigung 
protestantischer und katholischer Schulkinder in 
ihnen, und durch Anstellung protestantischer Auf- 
sichtsorgane für die verbleibenden katholischen 
Volksschulen. — Beide Gesetze, Kanzelparagraph 
und Schulaufsichtsgesetz, richteten sich so- 
wohl gegen die katholische wie gegen die evangelische 
Kirche. Auch auf evangelischer Seite machten sich 
daher Bedenken geltend, namentlich gegen das 
letztere Gesetz. Als dieses aber tatsächlich nur als 
Waffe gegen die katholische Kirche benutzt wurde, 
verstummten diese Bedenken bald, so daß fortan 
der Kampf von den Katholiken allein geführt 
wurde. Nur ganz vereinzelte Protestanten standen 
bei diesem den Katholiken zur Seite, vor allem 
der frühere Führer der Konservativen, Appella- 
tionsgerichtspräsident a. D. v. Gerlach und der 
frühere hannoverische Ministerialdirektor Dr Brüel. 
Eine wesentliche Verschärfung des Verhälknisses 
zwischen der Kurie und der Reichsregierung trat 
ein, als Kardinal Prinz Hohenlohe, ein Bruder 
des bayrischen Ministerpräsidenten und des später 
zu nennenden Herzogs von Ratibor, zum Bot- 
schafter des Deutschen Reichs beim Papst ernannt,
	        
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