Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

577 
durch Note des Kardinal-Staatssekretärs Antonelli 
vom 2. Mai 1872 auf Weisung des Papstes als 
solcher zurückgewiesen wurde. Die Zurückweisung 
erfolgte mit dem Bedauern, „einen Kardinal der 
heiligen römischen Kirche, auch wegen der augen- 
blicklichen Verhältnisse des Heiligen Stuhles, zur 
Annahme eines so delikaten und wichtigen Amtes 
nicht autorisieren zu können“. Als am 14. Mai 
1872 die Angelegenheit im Reichstag zur Sprache 
kam, beklagte sich Fürst Bismarck bitter über dieses 
Verfahren und tat dabei seinen seitdem zur Losung 
gewordenen Ausspruch: „Seien Sie außer Sorge, 
nach Canossa gehen wir nicht, weder körperlich 
noch geistig.“ Die deutsche Botschaft beim Vatikan 
blieb zunächst unbesetzt; am 4. Dez. 1874 wurde 
sie dann ausgehoben. 
Gegen das Papsttum selbst richtete sich die 
Papstwahldepesche Bismarcks vom 14. Mai 
1872, in welcher die europäischen Regierungen 
aufgefordert wurden, „über die Bedingungen, von 
welchen sie eventuell die Anerkennung einer Wahl 
(bes zukünftigen Papstes) abhängig machen wür- 
den“, untereinander sich zu verständigen. Bei der 
ablehnenden Haltung der übrigen Mächte blieb 
jedoch diese Anregung ohne Ergebnis. — Umso 
einschneidender gestaltete sich das gleichzeitige Vor- 
gehen auf dem Gebiete der Gesetzgebung. Am 15. 
und 16. Mai 1872 wurde im Reichstag- über 
neue Petitionen gegen den Jesuitenorden 
verhandelt, deren Besprechung nunmehr nichts 
mehr im Wege stand. Von katholischer Seite war 
wiederum die zwanzigfache Anzahl von Gegen- 
petitionen eingelaufen. Trotzdem überwies auf 
Antrag des konservativen Abgeordneten Wagener 
der Reichstag die Petitionen dem Reichskanzler 
mit der Aufforderung, „einen Gesetzentwurf vor- 
zulegen, welcher die staatsgefährliche Tätigkeit 
der religiösen Orden, Kongregationen und 
Genossenschaften, namentlich der Gesellschaft Jesu, 
unter Strafe stellt". Die Reichsregierung ent- 
sprach dieser Aufforderung mit der größten Be- 
schleunigung und ging noch weit über sie hinaus. 
Bereits am 4. Juli 1872 konnte das „Reichs- 
gesetz betreffend den Orden der Ge- 
sellschaft Jesu“ sanktioniert werden. Am 
5. Juli wurde es durch Verordnung des Bundes- 
rats in Vollzug gesetzt. Für dieses reine Polizei- 
gesetz, welches ohne jede richterliche Untersuchung 
über eine ganze Kategorie von Deutschen die bis 
dahin unerhörte Strafe der jederzeitigen Möglich- 
keit der Ausweisung verhängt, hatten sämtliche 
Parteien mit Ausnahme des Zentrums, der Polen, 
der Deutsch-Hannoveraner, der Demokraten, eines 
Teiles der Fortschrittspartei und weniger Natio- 
nalliberalen gestimmt. Es traf etwa 200 Jesuiten, 
welche sämtlich auswanderten, nachdem die Be- 
kanntmachung vom 5. Juli 1872 ihnen jede 
„Ausübung einer Ordenstätigkeit, insbesondere 
in Kirche und Schule, sowie die Abhaltung von 
Missionen“ verboten hatte. Am 20. Mai 1873 
unterwarf eine weitere Bekanntmachung des Bun- 
Staatslexikon. III. 3. Aufl. 
Kulturkampf ufw. 
  
578 
desrats die Redemptoristen, Lazaristen, Priester 
vom Heiligen Geist und die Gesellschaft vom 
heiligen Herzen Jesu (Oames du Sacré-Ceeur) 
als „verwandte“ Orden den Bestimmungen des 
Jesuitengesetzes. Auch diese wanderten aus. Am 
15. Juni 1872 schon hatte der preußische Kultus- 
minister durch einfache Verfügung den Mitgliedern 
aller Orden und Kongregationen die Ausübung 
einer Lehrtätigkeit an öffentlichen Volksschulen 
untersagt. 
Das Jesuitengesetz bezweckte „die Selbständig- 
machung der Bischöfe vom Jesuitenorden“. Aber 
schon vor Beratung des Gesetzes hatten alle Bi- 
schöfe, in deren Diözesen Jesuiten tätig waren, 
eine öffentliche Erklärung zu ihren Gunsten er- 
lassen. Nach Verkündigung des Gesetzes erließen 
am 20. Sept. 1872 die sämtlichen zu Fulda ver- 
sammelten deutschen Bischöfe eine ausführliche 
und freimütige Denkschrift an die deutschen Re- 
gierungen. Nachdem sie nachgewiesen hatten, daß 
„die katholische Kirche in Deutschland völker-- und 
staatsrechtlich anerkannt ist und in ihrer ganzen 
Integrität zu Recht besteht“, erklärten sie, es 
könne „keinem Zweifel unterliegen, daß sie durch 
eine Reihe von Maßregeln sowohl im Reich als 
in einzelnen Reichslanden in diesen ihren Rechten 
schwer verletzt worden ist“. Als solche Maßregeln 
wurden insbesondere genannt: die Begünstigungen 
der Altkatholiken, das Reichsgesetz gegen die Je- 
suiten und die preußische Verfügung gegen die 
Schulorden. Ferner fand die Zentrumsfraktion 
in der Denkschrift eine kräftige Verteidigung. — 
Auch seitens des Papstes erfolgten nachdrückliche 
Kundgebungen. Bei einer Audienz des deutschen 
Lesevereins in Rom am 24. Juni 1872 erklärte 
er: „Wir haben es mit einer Verfolgung zu tun, 
die, von langer Hand vorbereitet, jetzt ausgebrochen 
ist; es ist der erste Minister einer mächtigen Re- 
gierung, der nach seinen siegreichen Erfolgen im 
Felde sich an die Spitze der Verfolgung gestellt 
hat.“ Sodann ermahnte der Papfst die deutschen 
Katholiken zur Ausdauer: „Stehen wir fest im 
Vertrauen, halten wir in Eintracht zusammen! 
Wer weiß, ob nicht bald das Steinchen aus der 
Höhe sich loslöst, das den Fuß des Kolosses zer- 
chmettert.“ 
Diese Vorgänge und die bei Beratung der 
neuen Gesetze in den Parlamenten gehaltenen, tiefe 
Feindschaft gegen den Katholizismus atmenden 
Reden verursachten eine allgemeine und tiefgehende 
Aufregung unter dem kirchlich gesinnten Volke. 
Auf Grund eines Aufrufs vom 8. Juli 1872 bil- 
dete sich zur Verteidigung der Rechte der Kirche 
unter dem Vorsitz des Freiherrn Felix v. Los der 
„Verein der deutschen Katholiken“, gewöhnlich 
„Mainzer Verein“ genannt, der bald 200 000 
Mitglieder zählte. Dieser gelangte zwar unter 
dem Druck unausgesetzter behördlicher Maßreg- 
lungen nicht zu einer dauernden Wirksamkeit, gab 
aber kräftige und nachhaltige Anregungen. Der 
Minister des Innern, Graf Eulenburg, bezeichnete 
19 
—
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.