Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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ihn in einem Erlaß an die königlichen Regierungen 
vom 25. Sept. 1873 als einen politischen Verein, 
„dessen Tendenz offenkundig gegen die Staats- 
autorität gerichtet ist“. Im Anschluß daran stei- 
gerten sich die Angriffe der liberalen Presse immer 
mehr. „Es ist eine Lust, zu leben!“ rief die „Na- 
tionalzeitung“ aus. Die „Majestät des Gesetzes“ 
und die „Souveränität der Gesetzgebung“ wurden 
nach dem Vorgange Bismarcks allenthalben den 
Katholiken entgegengehalten, „Reichsfeindschaft" 
und „Vaterlandslosigkeit“ ihnen vorgeworfen. 
2. Alle bisherigen Maßregeln der Reichsgesetz- 
gebung, Landesgesetzgebung und Verwaltung 
waren indes nur Vorläufer der im Jahre 1873 
beginnenden planmäßigen Umstürzung des preußi- 
schen Staatskirchenrechts. Diese war nach den 
Außerungen des Reichskanzlers in der Sitzung 
des Reichstags vom 14. Mai 1872 für ganz 
Deutschland geplant, wurde dann aber aus 
bisher nicht näher bekannt gewordenen Gründen, 
vermutlich wegen des Widerstrebens Bayerns, nur 
für Preußen vollzogen, so daß der kirchenpolitische 
Kampf seitdem eine vorwiegend preußische 
Angelegenheit wurde. Er gab zwar auch für meh- 
rere andere deutsche Bundesstaaten, namentlich 
Baden und Hessen, das Beispiel zu kirchenfeind- 
lichen Maßnahmen ähnlicher Richtung, doch er- 
reichte in diesen der Kampf weder die systematische 
Konsequenz noch die furchtbare Erbitterung wie 
in Preußen. — Vor Beginn der entscheidenden 
Verhandlungen im Abgeordnetenhause trat Fürst 
Bismarck am 1. Jan. 1873 vorübergehend von der 
Ministerpräsidentschaft zurück; diese ging auf den 
Kriegsminister Grafen Roon über. — Die Thron- 
rede bei Eröffnung des preußischen Landtags am 
12. Nov. 1872 kündigte Vorlagen an, welche 
bestimmt seien, „die Beziehungen des Staates 
zu den Religionsgesellschaften nach verschiedenen 
Richtungen klar zu stellen“. Am 18. Nov. ging 
die erste dieser Vorlagen ein, das „Gesetz über 
die Grenzen des Rechts zum Gebrauche kirchlicher 
Straf= und Zuchtmittel“. Von den übrigen Vor- 
lagen hörte man, der König verweigere die Ge- 
nehmigung. Als jedoch der Papst in dem Weih- 
nachtskonsistorium vom 22. Dez. Veranlassung 
nahm, wiederum die deutschen Verhältnisse zu 
berühren, und dabei tadelte, daß „Männer, die 
nicht allein unsere heiligste Religion nicht bekennen, 
sondern sie nicht einmal kennen, die Macht sich 
anmaßen, die Dogmen und Rechte der katholischen 
Kirche abzugrenzen“, wurden auch die weiteren 
Vorlagen am 9. Jan. 1873 eingebracht: die Ge- 
setze „betr. die Vorbildung und Anstellung der 
Geistlichen“. „betr. die kirchliche Disziplinargewalt 
und die Errichtung des königlichen Gerichtshofs 
für kirchliche Angelegenheiten“ und „betr. den 
Austritt aus der Kirche“. Als Grund dieser Vor- 
lagen bezeichnete an demselben Tage der Ab- 
geordnete v. Mallinckrodt die Absicht: „auf 
dem Wege äußerer Knechtung, innerer Revolu- 
tionierung und dadurch herbeigeführter Auflösung 
  
Kulturkampf ufw. 
  
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der katholischen Kirche des Landes den Frieden 
des Kirchhofs zu erreichen“. 
Am 16. Jan. 1873 begann im Abgeord- 
netenhause die Generaldiskussion über die 
neuen Gesetze. Bei dieser gebrauchte der Abgeord- 
nete Virchow zum erstenmal das Wort „Kultur- 
kampf“, das, von den Katholiken ironisch auf- 
genommen, von da an die besondere Bezeichnung 
dieses Kampfes wurde. Am Schluß der General- 
diskussion, bei welcher den Rednern aus dem 
Zentrum in unerhörter Weise die Redefreiheit be- 
schnitten worden war, wurden die Vorlagen einer 
Kommission überwiesen. Die Kommission er- 
ledigte zunächst kurzerhand die vorgebrachten Be- 
denken wegen der Verfassungswidrigkeit der Vor- 
lagen, indem sie in ihrem Bericht vom 24. Jan. 
den Entwurf eines „Gesetzes betr. die Abände- 
rung der Art. 15 und 18 der preußischen Ver- 
fassungsurkunde“ vorlegte, zu welchem die 
Staatsregierung im voraus ihre Zustimmung ge- 
geben hatte. Im Plenum des Hauses wurde dieser 
Entwurf mit möglichster Beschleunigung durch- 
beraten und schon am 1. März mit 228 gegen 
108 Stimmen angenommen. Das Herren- 
haus zeigte sich schwieriger, obwohl dort kurz 
vorher durch einen Pairsschub von 24 neuen Mit- 
gliedern eine Regierungsmehrheit hergestellt wor- 
den war. Bei den Verhandlungen führte der 
Reichskanzler Fürst Bismarck den Ursprung des 
Kampfes zurück auf „die Bildung der mächtigen 
Zentrumspartei“, Ministerpräsident und Kriegs- 
minister Graf Roon auf „die von menschlicher 
Seite beanspruchte Unfehlbarkeit", Kultusminister 
Dr Falk auf die „Unhaltbarkeit der seit 1848 be- 
stehenden kirchenpolitischen Zustände“. Fürst Bis- 
marck bezeichnete als das Prinzip des Kampfes: 
„Es handelt sich um die Verteidigung des Staates; 
es handelt sich um die Abgrenzung, wie weit die 
Priesterherrschaft und wie weit die Königsherr- 
schaft gehen soll, und diese Abgrenzung muß so 
gefunden werden, daß der Staat seinerseits dabei 
bestehen kann. Denn in dem Reiche dieser Welt 
hat er das Regiment und den Vortritt.“ Nachdem 
dann Graf Roon die Bedenken der Protestanten 
beschwichtigt hatte mit den Worten: „Ich begreife 
die Zionswache von seiten der katholischen Kirche 
vollkommen, nicht aber von seiten der evangelischen 
Kirche; ich meine, die evangelische Kirche hat von 
diesen Gesetzen keine Art von Gefahr zu erwarten“, 
nahm auch das Herrenhaus am 4. April den Ent- 
wurf mit 140 gegen 87 Stimmen an. Am 5. April 
wurde er sanktioniert, am 7. April publiziert. — 
Art. 15 der Verfassung erkannte das eigne und 
selbständige Recht der katholischen Kirche zur Ver- 
waltung ihrer Angelegenheiten an. Das Gesetz 
vom 5. April 1873 fügte den widersprechenden 
Zusatz hinzu, daß sie „aber den Staatsgesetzen 
und der gesetzlich geordneten Aufsicht des Staates 
unterworfen bleibt“; ebenso fügte es dem Art. 18 
hinzu: „Im übrigen regelt das Gesetz die Be- 
fugnisse des Staates hinsichtlich der Vorbildung, 
 
	        
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