585
vergalt. Die „Norddeutsche Allgem. Zeitung“
erwartete von ihnen eine Kirche „ohne Dogmen-
zwang und Formelkram“. Am 4. Juni 1873
war von ihnen auf der Delegiertenversammlung
zu Bonn der bisherige Professor der Kirchen-
geschichte an der Breslauer Universität, Joseph
Hubert Reinkens, zum Bischof gewählt und am
11. Aug. von dem jansenistischen Bischof Heyde-
kamp von Deventer zu Rotterdam konsekriert wor-
den. Am 19. Sept. erhielt er die landesherrliche
Anerkennung als „katholischer Bischof“ und wurde
dann nach der Eidesleistung am 7. Okt., in welcher
er die unbedingte Unterwerfung unter die staat-
lichen Gesetze nach der neuen Formel versprach, in
Preußen durch den Etat von 1874 mit einem
staatlichen Gehalt von 15 000 M und 6000 M
Pauschquantum für Reiseauslagen ausgestattet.
Im ganzen wurden im Etat für altkatholische
Zwecke 48 000 M ausgeworfen. Von seiten der
Regierung wurde bei Beratung der betreffenden
Etatsposition die Zahl der Altkatholiken in Preußen
auf 4362 selbständige und 17 028 unselbständige
Mitglieder in 28 organisierten Gemeinden an-
gegeben. Es ist selbstredend, daß die Altkatho-
liken sich den neuen Gesetzen unterwarfen; ihre
Geistlichen konnten daher ungehindert wirken,
Bischof Reinkens auch firmen, Geistliche weihen
und anstellen. Dasselbe tat die protestantische
Kirche, so daß z. B. die evangelischen Prediger-
seminare zu Wittenberg, Hadersleben, Hannover,
Kloster Loccum und Herborn und ebenso die noch
bestehenden protestantischen Klöster und Stifte in
der Provinz Hannover erhalten blieben. Kein
protestantischer oder altkatholischer Geistlicher ist
auf Grund der Maigesetze verurteilt worden.
Doch alle Versuche, die katholische Be-
völkerung zu einer andern Haltung zu bringen,
blieben erfolglos. Vielmehr führten die Bedräng-
nisse der Zeit zu einer nachhaltigen Vertiefung des
religiösen Lebens. Die größten Anstrengungen
wurden bei den Wahlen gemacht. Infolgedessen
stieg bei den Neuwahlen zum Abgeordnetenhaus
am 4. Nov. 1873 das Zentrum von 52 auf 90,
bei den Neuwahlen zum Reichstag am 10. Jan.
1874 von 63 auf 91 Mitglieder, obgleich alle
Parteien, von den Konservativen bis zum Fort-
schritt, gegen dasselbe sich vereinigt hatten. Eben-
so groß war die Vermehrung der abgegebenen
Stimmen: 1871 waren für Kandidaten der
Zentrumsparteibei den Reichstagswahlen 696 586
Stimmen abgegeben worden, jetzt 1448170 Stim-
men. Hand in Hand mit dieser Bewegung ging
der Aufschwung der katholischen Presse: Ende
1873 zählte man bereits 120 neue, täglich erschei-
nende Zeitungen der Zentrumspartei in Preußen.
3. Die bisherigen Maigesetze hatten nur Ver-
wirrung geschaffen und sich dabei als undurch-
führbar erwiesen. Die Regierung entschloß sich
daher zu einer weiteren Serie von kirchen-
politischen Gesetzen, zur „Befestigung, Er-
läuterung und Verschärfung“ der ersteren, wie der
Kulturkampf ufw.
586
Kultusminister sich ausdrückte. — Das erste, das
preußische „Gesetz über die Beurkundung des Per-
sonenstandes und die Form der Eheschließung“
vom 9. März 1874, sollte die Laien in Sachen
der Eheschließung von der Geistlichkeit unabhängig
machen und der durch den allmählich größer wer-
denden Mangel an staatlich anerkannten katho-
lischen Geistlichen an vielen Orten herbeigeführten
Unmöglichtkeit, bürgerlich gültige Ehen zu schließen,
abhelfen. Später wurde es auf das ganze Reich
ausgedehnt. — Das zweite, das „Gesetz über die
Verwaltung erledigter katholischer Bistümer“ vom
20. Mai 1874, war durch die Absetzung des Erz-
bischofs von Posen notwendig geworden. Es ver-
langt von demjenigen, welcher in einem katho-
lischen Bistum, dessen Stuhl „erledigt" ist, bischöf-
liche Rechte und Verrichtungen ausüben will, Mit-
teilung an den Oberpräsidenten, Nachweis der
maigesetzlichen Vorbedingungen zur Bekleidung
eines geistlichen Amtes und die Ableistung eines
Eides, „die Gesetze des Staates zu befolgen“.
Dem Oberpräsidenten steht der Einspruch zu, über
den in letzter Instanz der kirchliche Gerichtshof
entscheidet. Zuwiderhandlungen sind mit Ge-
fängnis von sechs Monaten bis zwei Jahren be-
droht. Wenn „die Stelle eines Bischofs infolge
gerichtlichen Urteils erledigt worden“ ist, hat der
Oberpräsident das Domkapitel zur sofortigen
Wahl eines Bistumsverwesers aufzufordern; im
Weigerungsfalle ernennt der Kultusminister einen
„Kommissarius, welcher das dem bischöflichen
Stuhle gehörige Vermögen in Verwahrung und
Verwaltung“ nimmt. Ist der letztere Fall ein-
getreten, so kann der Patron einer erledigten
Stelle, in Ermanglung dessen die Gemeinde die
Stelle mit Umgehung des Bischofs besetzen. Die
Wahl des Geistlichen durch die Gemeinde findet
statt auf Antrag von mindestens zehn Gemeinde-
mitgliedern durch die Hälfte der Erschienenen. —
Das dritte, das „Gesetz wegen Deklaration und
Ergänzung des Gesetzes vom 11. Mai 1873 über
die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen“,
vom 21. Mai 1874, sollte zunächst Freisprechungen
wegen maigesetzwidriger Amtshandlungen, welche
infolge der lückenhaften Fassung des erwähnten
Gesetzes zahlreich ergangen waren, verhindern.
Es dehnt die maigesetzlichen Strafen aus auf alle
Fälle, wo ein Geistlicher Amtshandlungen vor-
nimmt, ohne den Nachweis führen zu können, daß
er diese mit Genehmigung des Oberpräsidenten
ausübt. Sodann ergänzt es das frühere Gesetz,
wie folgt. Nach Erledigung eines geistlichen Amtes
ist der Oberpräsident befugt, die Beschlagnahme
des Vermögens der Stelle zu verfügen, wenn das
erledigte Amt maigesetzwidrig übertragen ist, oder
wenn Tatsachen vorliegen, welche die Annahme
begründen, daß die Übertragung desselben mai-
gesetzwidrig erfolgen werde. Wenn nach Erledi-
gung eines geistlichen Amtes ein Geistlicher mai-
gesetzlich wegen unbefugter Vornahme von Amts-
handlungen verurteilt worden ist, so kann der