Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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vergalt. Die „Norddeutsche Allgem. Zeitung“ 
erwartete von ihnen eine Kirche „ohne Dogmen- 
zwang und Formelkram“. Am 4. Juni 1873 
war von ihnen auf der Delegiertenversammlung 
zu Bonn der bisherige Professor der Kirchen- 
geschichte an der Breslauer Universität, Joseph 
Hubert Reinkens, zum Bischof gewählt und am 
11. Aug. von dem jansenistischen Bischof Heyde- 
kamp von Deventer zu Rotterdam konsekriert wor- 
den. Am 19. Sept. erhielt er die landesherrliche 
Anerkennung als „katholischer Bischof“ und wurde 
dann nach der Eidesleistung am 7. Okt., in welcher 
er die unbedingte Unterwerfung unter die staat- 
lichen Gesetze nach der neuen Formel versprach, in 
Preußen durch den Etat von 1874 mit einem 
staatlichen Gehalt von 15 000 M und 6000 M 
Pauschquantum für Reiseauslagen ausgestattet. 
Im ganzen wurden im Etat für altkatholische 
Zwecke 48 000 M ausgeworfen. Von seiten der 
Regierung wurde bei Beratung der betreffenden 
Etatsposition die Zahl der Altkatholiken in Preußen 
auf 4362 selbständige und 17 028 unselbständige 
Mitglieder in 28 organisierten Gemeinden an- 
gegeben. Es ist selbstredend, daß die Altkatho- 
liken sich den neuen Gesetzen unterwarfen; ihre 
Geistlichen konnten daher ungehindert wirken, 
Bischof Reinkens auch firmen, Geistliche weihen 
und anstellen. Dasselbe tat die protestantische 
Kirche, so daß z. B. die evangelischen Prediger- 
seminare zu Wittenberg, Hadersleben, Hannover, 
Kloster Loccum und Herborn und ebenso die noch 
bestehenden protestantischen Klöster und Stifte in 
der Provinz Hannover erhalten blieben. Kein 
protestantischer oder altkatholischer Geistlicher ist 
auf Grund der Maigesetze verurteilt worden. 
Doch alle Versuche, die katholische Be- 
völkerung zu einer andern Haltung zu bringen, 
blieben erfolglos. Vielmehr führten die Bedräng- 
nisse der Zeit zu einer nachhaltigen Vertiefung des 
religiösen Lebens. Die größten Anstrengungen 
wurden bei den Wahlen gemacht. Infolgedessen 
stieg bei den Neuwahlen zum Abgeordnetenhaus 
am 4. Nov. 1873 das Zentrum von 52 auf 90, 
bei den Neuwahlen zum Reichstag am 10. Jan. 
1874 von 63 auf 91 Mitglieder, obgleich alle 
Parteien, von den Konservativen bis zum Fort- 
schritt, gegen dasselbe sich vereinigt hatten. Eben- 
so groß war die Vermehrung der abgegebenen 
Stimmen: 1871 waren für Kandidaten der 
Zentrumsparteibei den Reichstagswahlen 696 586 
Stimmen abgegeben worden, jetzt 1448170 Stim- 
men. Hand in Hand mit dieser Bewegung ging 
der Aufschwung der katholischen Presse: Ende 
1873 zählte man bereits 120 neue, täglich erschei- 
nende Zeitungen der Zentrumspartei in Preußen. 
3. Die bisherigen Maigesetze hatten nur Ver- 
wirrung geschaffen und sich dabei als undurch- 
führbar erwiesen. Die Regierung entschloß sich 
daher zu einer weiteren Serie von kirchen- 
politischen Gesetzen, zur „Befestigung, Er- 
läuterung und Verschärfung“ der ersteren, wie der 
Kulturkampf ufw. 
  
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Kultusminister sich ausdrückte. — Das erste, das 
preußische „Gesetz über die Beurkundung des Per- 
sonenstandes und die Form der Eheschließung“ 
vom 9. März 1874, sollte die Laien in Sachen 
der Eheschließung von der Geistlichkeit unabhängig 
machen und der durch den allmählich größer wer- 
denden Mangel an staatlich anerkannten katho- 
lischen Geistlichen an vielen Orten herbeigeführten 
Unmöglichtkeit, bürgerlich gültige Ehen zu schließen, 
abhelfen. Später wurde es auf das ganze Reich 
ausgedehnt. — Das zweite, das „Gesetz über die 
Verwaltung erledigter katholischer Bistümer“ vom 
20. Mai 1874, war durch die Absetzung des Erz- 
bischofs von Posen notwendig geworden. Es ver- 
langt von demjenigen, welcher in einem katho- 
lischen Bistum, dessen Stuhl „erledigt" ist, bischöf- 
liche Rechte und Verrichtungen ausüben will, Mit- 
teilung an den Oberpräsidenten, Nachweis der 
maigesetzlichen Vorbedingungen zur Bekleidung 
eines geistlichen Amtes und die Ableistung eines 
Eides, „die Gesetze des Staates zu befolgen“. 
Dem Oberpräsidenten steht der Einspruch zu, über 
den in letzter Instanz der kirchliche Gerichtshof 
entscheidet. Zuwiderhandlungen sind mit Ge- 
fängnis von sechs Monaten bis zwei Jahren be- 
droht. Wenn „die Stelle eines Bischofs infolge 
gerichtlichen Urteils erledigt worden“ ist, hat der 
Oberpräsident das Domkapitel zur sofortigen 
Wahl eines Bistumsverwesers aufzufordern; im 
Weigerungsfalle ernennt der Kultusminister einen 
„Kommissarius, welcher das dem bischöflichen 
Stuhle gehörige Vermögen in Verwahrung und 
Verwaltung“ nimmt. Ist der letztere Fall ein- 
getreten, so kann der Patron einer erledigten 
Stelle, in Ermanglung dessen die Gemeinde die 
Stelle mit Umgehung des Bischofs besetzen. Die 
Wahl des Geistlichen durch die Gemeinde findet 
statt auf Antrag von mindestens zehn Gemeinde- 
mitgliedern durch die Hälfte der Erschienenen. — 
Das dritte, das „Gesetz wegen Deklaration und 
Ergänzung des Gesetzes vom 11. Mai 1873 über 
die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen“, 
vom 21. Mai 1874, sollte zunächst Freisprechungen 
wegen maigesetzwidriger Amtshandlungen, welche 
infolge der lückenhaften Fassung des erwähnten 
Gesetzes zahlreich ergangen waren, verhindern. 
Es dehnt die maigesetzlichen Strafen aus auf alle 
Fälle, wo ein Geistlicher Amtshandlungen vor- 
nimmt, ohne den Nachweis führen zu können, daß 
er diese mit Genehmigung des Oberpräsidenten 
ausübt. Sodann ergänzt es das frühere Gesetz, 
wie folgt. Nach Erledigung eines geistlichen Amtes 
ist der Oberpräsident befugt, die Beschlagnahme 
des Vermögens der Stelle zu verfügen, wenn das 
erledigte Amt maigesetzwidrig übertragen ist, oder 
wenn Tatsachen vorliegen, welche die Annahme 
begründen, daß die Übertragung desselben mai- 
gesetzwidrig erfolgen werde. Wenn nach Erledi- 
gung eines geistlichen Amtes ein Geistlicher mai- 
gesetzlich wegen unbefugter Vornahme von Amts- 
handlungen verurteilt worden ist, so kann der 
 
	        
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