Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Tone gehalten, enthielt aber noch den Ausdruck 
der Hoffnung, daß durch den mächtigen Einfluß 
des Papstes die Katholiken nunmehr „den Ge- 
setzen des Landes, in dem sie wohnen, sich fügen 
werden". Der Pahpst erklärte sich jedoch am 
17. April außer stande, den Klerus hierzu zu ver- 
Mögen, falls die Gesetze nicht vorher abgeändert 
würden. — In diese Zeit fielen die beiden 
Attentate auf Kaiser Wilhelm durch Hödel 
am 11. Mai und Nobiling am 2. Juni 1878. 
Der Kaiser wurde durch das zweite schwer ver- 
wundet, so daß zeitweilig der Kronprinz die Stell- 
vertretung in der Regierung übernehmen mußte. 
Nach dem ersten Attentat hatte der Landesherr 
in einer tiefbewegten Ansprache an die Minister 
denselben anbefohlen, dafür zu sorgen, „daß 
dem Volke die Religion nicht verloren gehe“. 
Beidemal hatte der Papst Kondolenzschreiben an 
den Kaiser gesandt. Auf das zweite antwortete 
der Kronprinz am 10. Juni, indem er die Hoff- 
nung aussprach, daß unter Verzicht auf Er- 
örterung prinzipieller Gegensätze „da, wo eine 
grundsätzliche Verständigung nicht erreichbar ist, 
doch versöhnliche Gesinnung beider Teile auch 
für Preußen den Weg zum Frieden eröffnen 
werde“, obwohl „dem Verlangen des Papstes, 
die Verfassung und die Gesetze Preußens nach den 
Satzungen der römisch-katholischen Kirche abzu- 
ändern, kein preußischer Monarch werde ent- 
sprechen können“. Zum erstenmal wurde Hier der 
Gedanke ausgesprochen, der für die nächsten Jahre 
die Politik der Regierung beherrschte: unter Bei- 
behaltung des geschlossenen Systems der Mai- 
gesetzgebung durch milde Praxis und Ent- 
gegenkommen im einzelnen einen erträglichen tat- 
sächlichen Zustand herbeizuführen. — Auf dem 
Boden dieser Politik bewegten sich die nunmehr 
bald beginnenden Unterhandlungen. Ende 
Juli 1878 kam zur allgemeinen Überraschung die 
Nachricht, daß Fürst Bismarck persönlich in dem 
Badeorte Kissingen mit dem päpstlichen Nuntius 
in München, Msgr Masella, Beziehungen an- 
geknüpft habe. Die Anregung zu dieser Zu- 
sammenkunft war vom Fürsten Bismarck aus- 
Das Eis war gebrochen, der erste 
Rückzug getan. Fürst Bismarck hatte 
seine Hoffnung auf Beendigung des 
ausgesprochen, wenn einst auf den 
„kriegerischen“ Pius IX. ein „pfriedlicher Papst“ 
gefolgt sein werde. Der eingetretene Wechsel in 
der Person des Papstes begünstigte daher die An- 
näherung. Doch mußten bei dem derzeitigen 
Standpunkt der Regierung diese ersten Verhand- 
lungen naturgemäß noch ohne Ergebnis bleiben.— 
Die Stellung des Kultusministers Dr Falk war 
aber durch diese Wendung unhaltbar geworden. 
Er sah ein, daß für die von jetzt an erstrebte Her- 
stellung friedlicher Zustände auf kirchenpolitischem 
Gebiete seine Person „ein ernstes Hindernis ab- 
geben müsse“. Auch auf evangelisch-kirchlichem 
Gebiet war er wachsenden Schwierigkeiten be- 
   
  
   
  
Kulturkampf ufw. 
  
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gegnet. Am 29. Juni 1879 reichte er seine Ent- 
lassung ein. Am 14. Juli folgte ihm als Kultus- 
minister ein Vetter des Fürsten Bismarck, der 
Oberpräsident von Schlesien, v. Puttkamer, 
welcher nun vom Reichskanzler die Anweisung er- 
hielt, unter Aufrechthaltung der von den Mai- 
gesetzen gezogenen Grundlinien die praktische An- 
wendung der Gesetze in möglichst friedliche Bahnen 
zu lenken. 
Der Grund dieser Umstimmung lag in 
mannigfaltigen innerpolitischen Verhältnissen. Die 
weitgehende Zerstörung des kirchlichen Organis- 
mus, die Verbitterung der Katholiken und der 
immer größer werdende Mangel an Seelsorgern 
führten eine religiöse Verwilderung der Massen 
herbei, welche lediglich der mächtig aufstrebenden 
Sozialdemokratie zu statten kommen konnte. Auf 
die Gefahr der letzteren war bei Gelegenheit der 
Attentate auf den Kaiser das Augenmerk weiterer 
Kreise hingelenkt worden. Fürst Bismarck legte 
alsbald nach dem ersten Attentat dem Reichstag 
ein Gesetz vor, welches durch äußere Zwangs- 
maßregeln der Sozialdemokratie entgegenwirken 
wollte. Der Reichstag lehnte am 25. Mai das 
Gesetz ab; auch das Zentrum stimmte gegen dieses, 
indem es eine organische Lösung der Arbeiter- 
frage verlangte. Nach dem zweiten Attentat am 
2. Juni wurde deshalb der Reichstag aufgelöst. 
Die Neuwahlen am 30. Juli 1878 ergaben 
eine starke Schwächung der Nationalliberalen, da- 
gegen eine Stärkung der konservativen Parteien 
und des Zentrums. Letzteres, welches bei der 
Wahl von 1877 auf 98 Mitglieder und 3 Hospi- 
tanten gestiegen war, erreichte nun die Zahl von 
94 Mitgliedern und 10 Hospitanten und wurde 
damit zur stärksten Fraktion des neuen Reichstags. 
Als im Mai 1879 die neue „konservativ-klerikale" 
Mehrheit des Reichstags sich ein anderes Prä- 
sidium gab, wurde der Vorsitzende der Zentrums- 
fraktion, Freiherr zu Franckenstein, erster Vize- 
präsident. Fürst Bismarck, der alle andern Par- 
teien nach Belieben „an die Wand gedrückt“ hatte, 
gestand, das Zentrum sei der „unüberwindliche 
Turm“, gegen den er vergebens ankämpfe. Das 
Sozialistengesetz wurde zwar im neuen Reichstag 
gegen die Stimmen des Zentrums angenommen, 
aber auf andern Gebieten wurde das Zentrum 
jetzt ausschlaggebend. 
Die nach dem großen industriellen Krach von 
1873 ausgebrochene wirtschaftliche Not 
zwang die Regierung, die freihändlerische Han- 
delspolitik zu verlassen und im Jahre 1879 einen 
neuen schutzzöllnerischen Tarif vorzulegen, der 
gleichzeitig das Defizit im Reich und in mehreren 
Einzelstaaten beseitigen sollte. Derselbe konnte 
nur mit Hilfe des Zentrums durchgesetzt werden. 
Dabei errang das Zentrum durch Annahme der 
von ihm beantragten, die föderative Gestaltung 
Deutschlands wahrenden „Franckensteinschen 
Klausel“, betr. die Art der Verrechnung der 
Einnahmen aus dem neuen Zolltarif, seinen ersten
	        
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