Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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parlamentarischen Sieg, dem seitdem viele andere 
folgten. Bei der Reform der Arbeiter- 
verhältnisse, welcher die Regierung sich nun- 
mehr zuwandte und welche bald nachher in den 
kaiserlichen Botschaften vom 19. Nov. 1881 und 
14. April 1883 feierlich zugesagt wurde, war die 
Mithilse des Zentrums, dessen Führer zuerst die 
Notwendigkeit einer sozialen Reform nachdrücklich 
betont hatten, ebenfalls nicht zu entbehren. Da 
die große liberale Partei mehr und mehr zerfiel, 
die konservative aber nicht genug wuchs, um der 
Regierung als ausschließliche Stütze zu dienen, so 
war in fast allen Fragen die Regierung genötigt, 
auf die Haltung des Zentrums Rücksicht zu neh- 
men. Bei diesem hinwieder traten nach wie vor 
alle andern Bestrebungen zurück vor dem einen 
großen Ziele: der Wiedererlangung der kirch- 
lichen Freiheit. Von konservativer Seite hatten 
sich schon Stimmen bemerkbar gemacht, welche im 
Interesse eines Zusammengehens mit dem Zentrum 
in wirtschaftlichen Fragen die Beseitigung des 
Kulturkampfes wünschten. Den unausgesetzten 
Bemühungen der parlamentarischen Vertretung, 
welche bei fast allen Gegenständen der Beratung 
irgend eine Beziehung zum Kulturkampf heraus- 
zufinden wußte, entsprach die Standhaftigkeit von 
Klerus und Volk. Die „maigesetzwidrigen“ 
Amtshandlungen waren so zahlreich geworden, 
daß die Behörden anfingen in der Verfolgung zu 
erlahmen. Infolgedessen blieben allmählich Hun- 
derte von ihnen ungeahndet. Das Festhalten des 
unverrückten maigesetzlichen Standpunktes war 
selbst bei den Kulturkampfsparteien einer immer 
geringer werdenden Befriedigung begegnet. Nur 
die Nationalliberalen standen noch unbekehrt zur 
alten Parole. Aber diese Partei war im raschen 
Rückgang begriffen. Die altkatholische Bewegung 
hatte nicht entfernt den Erwartungen entsprochen. 
Ein Gewinn für den Staat war aus dem Kultur- 
kampf in keinem Falle mehr zu hoffen. 
lber seine damalige Gesamtauffassung der Lage 
hat nachmals, in der Sitzung des Herrenhauses 
vom 23. März 1887, Fürst Bismarck selbst sich 
solgendermaßen erklärt: „Als der jetzt regierende 
Papst sein Amt antrat, ließ sich bald merken, daß 
der Herr als eine der Aufgaben seiner hohen 
Mission die Herstellung des äußern und innern 
Friedens der Welt auffaßte. Ich habe infolge- 
dessen schon damals ein Programm vertreten, 
welches ziemlich genau übereinstimmt mit der Ge- 
samtheit dessen, was seitdem an Konzessionen vor- 
gelegt wurde, mit Einschluß dessen, was wir heute 
beantragen. Aber es ist ein richtiger Beweis dafür, 
wie irrtümlich die Erzählungen von einem all- 
mächtigen Minister sind, wenn ich sage, daß ich fast 
zehn Jahre gebraucht habe, um dieses Programm 
allmählich der Ausführung näher zu bringen, und 
notwendig so lange brauchen mußte, wenn ich 
Krisen und Gefahren für die ganze Stellung der 
Regierung vermeiden wollte.“ Dabeibefolgte Fürst 
Bismarck die Taktik, sich nach Möglichkeit vom 
  
Kulturkampf ufw. 
  
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Parlamente und der öffentlichen Meinung drängen 
zu lassen. Auch hielt er unausgesetzt das Ziel im 
Auge, gegen die Gewährung kirchlicher Freiheiten 
Vorteile für seine innere Politik zu erlangen, 
welche ihm das Zentrum bieten sollte. Wie aus 
dem späteren Briefe des Freiherrn zu Franckenstein 
vom 16. Jan. 1887 an den Nuntius in München 
sich ergibt, hat damals auch Papst Leo XIII. zu 
dem Versuch einer Einwirkung auf das Zentrum 
sich bereit finden lassen. Das Zentrum erklärte es 
jedoch für unmöglich, päpstlichen Weisungen in 
nicht kirchlichen Angelegenheiten zu folgen. Mit 
Beziehung hierauf enthielt ein vom Fürsten Hohen- 
lohe im Namen des Reichskanzlers an den Prinzen 
Reuß zur Mitteilung an den Wiener Nuntius ge- 
richteter Erlaß vom 5. Mai 1880 die bezeichnende 
Stelle: „Wenn der Papst wirklich keinen Einfluß 
auf das Zentrum habe, was könne dann der welt- 
lichen Regierung eine Verständigung helfen, die 
den Papst zufrieden stelle."“ 
Die Kissinger Verhandlungen wurden zu- 
nächst wieder ausgenommen durch den deutschen 
Botschafter in Wien, Grafen Stolberg-Werni- 
gerode, mit dem dortigen Nuntius Jacobini, dem 
späteren Kardinal-Staatssekretär. Am 14. Sept. 
1879 traf dann Fürst Bismarck mit Jacobini in 
Gastein zu mehrtägigen Konferenzen zusammen. 
Im November wurden die Besprechungen in Wien 
weitergeführt durch den deutschen Botschafter 
Prinzen Reuß und den Geheimen Rat Dr Hübler. 
Es hatte sich dabei herausgestellt, daß Fürst Bis- 
marck vor allem die Anerkennung der Anzeige- 
pflicht bei Ubertragung geistlicher Amter so- 
wie des staatlichen Einspruchsrechtes zu erlangen 
wünschte und sich dann „in den friedlichen An- 
näherungen pari passu mit dem päpstlichen Stuhle 
zu halten“ gedachte. Unter dem 23. Febr. 1880 
richtete nun Leo XIII. ein Breve an den Erzbischof 
von Köln, welches der Regierung mitgeteilt wurde, 
und in welchem es hieß: „daß Wir zur Beschleu- 
nigung der Eintracht es dulden werden, daß der 
preußischen Staatsregierung vor der kanonischen 
Einsetzung die Namen derjenigen Priester an- 
gezeigt werden, welche die Bischöfe für die Aus- 
übung der Seelsorge zur Teilnahme an ihrer 
Mühewaltung berufen“. Die in den früheren 
Verhandlungen bekannt gegebenen näheren Be- 
dingungen stellte noch einmal eine Depesche des 
Kardinal-Staatssekretärs Nina an den Nuntius 
Jacobini vom 23. März zusammen, nachdem die 
Regierung versucht hatte, den Papst vor allem 
andern zur tatsächlichen Anerkennung der unver- 
änderten maigesetzlichen Anzeige zu bestimmen. 
Als Antwort auf die Abweisung dieses Verlangens 
erging, noch ehe die Ninasche Depesche vorlag, ein 
Staatsministerial-Beschluß vom 17. März 1880: 
die Regierung hoffe, „zunächst erwarten zu dürfen, 
daß der erneuten Erklärung über die versöhnlichen 
Absichten des Papstes auch praktische Folge gegeben 
wird. Sobald die königliche Regierung den sicht- 
lichen und in Tatsachen ausgedrückten Beweis
	        
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