Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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gesetzliche Vollmacht möglich war, da dieser Eid 
nicht, wie derjenige der Bistumsverweser, durch 
Gesetz, sondern durch königliche Verordnung be- 
stimmt war. In allen diesen Dibzesen, Osnabrück, 
Paderborn, Trier, Breslau und Fulda, wurden 
gleichzeitig die staatlichen Vermögensverwaltungen 
aufgehoben und die staatlichen Leistungen für die 
katholische Kirche wieder aufgenommen. Um so 
unangenehmer fiel es auf, daß in den übrigen 
Diözesen die Sperre bestehen blieb, als nun am 
31. Dez. 1881 die Vollmachten der Regierung 
erloschen. 
3. Die Zentrumsfraktion war inzwischen nicht 
müßig geblieben. Sie hatte gegen das Juligesetz 
gestimmt und damit nicht nur den grundsätzlichen 
Anforderungen, sondern auch vollständig der 
Stimmung des Volkes entsprochen. Ein Zeichen 
dieser Stimmung sowohl wie eine Folgerung aus 
der Abwesenheit des Erzbischofs war es, daß bei 
der Feier zur Vollendung des Kölner Domes am 
15. Okt. 1880, welcher der Kaiser anwohnte, 
die Anhänger der Zentrumspartei „würdige Zu- 
rückhaltung“ beobachteten. Im Januar 1881 
unterbreitete der Abgeordnete Windthorst dem 
Abgeordnetenhause eine Statistik, nach 
welcher um diese Zeit von 4627 Pfarrern und 
3812 Hilfsgeistlichen in Preußen nicht weniger 
als 1125 Pfarrer und 645 Hilfsgeistliche fehlten; 
ganz verwaist waren 601 Pfarreien mit 646 000 
Seelen, halb verwaist außerdem 584 Pfarreien 
mit 1501.000 Seelen. Diesem gewaltigen Seel- 
sorgermangel konnten auch die neuen Bischöfe in 
keiner Weise abhelfen; sie waren gerade wie die 
alten: „Bischöfe in Fesseln“. Im Abgeordneten- 
hause war zwar auch inzwischen das Zentrum bei 
allen zwischen der Linken und der Rechten strei- 
tigen Punkten ausschlaggebend geworden, ein 
Mitglied desselben, Freiherr v. Heereman, war 
bereils 1879 zum zweiten Vizepräsidenten ge- 
wählt worden; im folgenden Jahre aber wurde 
er, als auch er nicht bei der Kölner Domfeier 
erschien, wieder aus dem Präsidium des Hauses 
verdrängt. Ebenso standen in allen andern Kultur- 
kampfsfragen nach wie vor Rechte und Linke mit 
wenigen Ausnahmen gegen das Zentrum zu- 
sammen. So wurde am 26. Jan. 1881 der An- Ul 
trag Windthorsts auf Freigebung des Sakramente- 
spendens und des Messelesens und am 15. Febr. 
der Antrag desselben Abgeordneten auf Aufhebung 
des Sperrgesetzes verworfen. Um so bedeutungs- 
voller war die Tatsache, daß bei den Reichs- 
tagswahlen am 27. Okt. 1881 die der Re- 
gierung ergebenen „Mittelparteien“, National- 
liberale und Freikonservative, wesentlich geschwächt, 
die Linke (Fortschritt und Sezession) wesentlich 
gestärkt wurden. Das Zentrum gewann wiederum 
mehrere Sitze — es erreichte 100 Mitglieder und 
9 Hospitanten — und nahm im Reichstag immer 
mehr eine beherrschende Stellung ein. Fürst Bis- 
marck war durch diese Lage zwar „weder überrascht 
noch entmutigt“, aber die Folgerungen mußte er 
Kulturkampf usw. 
  
600 
ziehen. Am 12. Jan. 1882 nahm der Reichstag 
den Antrag Windthorsts auf Aufhebung des 
Reichsachtgesetzes mit 233 gegen 115 Stimmen 
an. Die Thronrede zur Eröffnung des Landtages 
vom 14. Jan. kündigte den Entwurf einer zweiten 
kirchenpolitischen Novelle an. Freiherr v. Heere- 
man wurde wieder in das Präsidium des Ab- 
geordnetenhauses gewählt, und zwar diesmal auf 
die ihm parlamentarisch zukommende Stelle des 
ersten Vizepräsidenten. 
Am 16. Jan. wurde der angekündigte Entwurf 
einer zweiten kirchenpolitischen Novelle 
dem Abgeordnetenhause vorgelegt. Auch dieser 
Entwurf, welcher nun „bis an die äußerste Grenze 
dessen, was mit den unveräußerlichen Rechten des 
Staates vereinbar“ sei, gehen sollte und ebenfalls 
auf dem System der diskretionären Vollmachten 
aufgebaut war, beruhte auf einseitiger Ent- 
schließung der Regierung. Zwar waren die Ver- 
handlungen in Rom im Sommer 1881 durch 
den deutschen Gesandten in Washington, Herrn 
v. Schlözer, wieder angeknüpft und im Dezember 
durch den Unterstaatssekretär im Auswärtigen 
Amte, Dr Busch, fortgesetzt worden, aber auch 
diesmal hatten sie noch kein Ergebnis gehabt. 
Nunmehr forderte die Regierung im Etat die 
Mittel zur Wiedererrichtung einer preußischen 
Gesandtschaft beim Vatikan anstatt der aufge- 
hobenen deutschen Botschaft und ernannte, nach- 
dem diese vom Landtag gegen die Stimmen der 
liberalen Fraktionen bewilligt waren, am 4. April 
1882 den Gesandten in Washington, v. Schlözer, 
zum Gesandten bei der Kurie. — Der kirchenpoli- 
tische Entwurf hatte inzwischen zu langwierigen 
Verhandlungen zwischen den Parteien im Abge- 
ordnetenhause geführt. Als dieselben zu scheitern 
drohten, brachte der Abgeordnete Windthorst seine 
Anträge auf Freigebung des Messelesens und Sa- 
kramentespendens und auf Aufhebung des Sperr- 
gesetzes wieder ein. Endlich kam zwischen den 
Konservativen und dem Zentrum eine Verein- 
barung zustande, welcher auch die Regierung still- 
schweigend zustimmte und auf Grund deren der 
Abgeordnete Windthorst seine Anträge für diese 
Session zurückszog. Am 31. Mai 1882 — daher 
timo-Gesetz genannt — wurde der Ent- 
wurf Gesetz. 
Das „Gesetz betr. Abänderung der kirchen- 
politischen Gesetze“ vom 31. Mai 1882 ver- 
längerte zunächst die am 1. Jan. 1882 erloschenen 
Vollmachten der Regierung aus der ersten Novelle 
bis zum 1. April 1884. Wenn der König einen 
„aus dem Amte entlassenen“ Bischof „begnadigte“, 
so sollte dieser wieder als staatlich anerkannter 
Bischof seiner Diözese gelten. Von Ablegung der 
wissenschaftlichen Staatsprüfung, des sog. Kultur- 
examens, sollten diejenigen Kandidaten des geist- 
lichen Standes befreit sein, welche durch Zeugnisse 
nachwiesen, daß sie Vorlesungen aus der Philo- 
sophie, Geschichte und deutschen Literatur „mit 
Fleiß gehört“ hatten. Auch im übrigen sollte der
	        
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