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Kultusminister von den maigesetzlichen Erforder-
nissen zur Bekleidung eines geistlichen Amtes
dispensieren dürfen. Die Möglichkeit der Ernen-
nung von Pfarrern durch Patrone und Gemeinden
(sog. Staatspfarrern) wurde abgeschafft.
Während der parlamentarischen Verhandlungen
über das Gesetz waren durch päpstliches Breve der
Bistumsverweser Hötting zum Bischof von Osna-
brück, Propst Herzog von Berlin zum Fürstbischof
von Breslau und Bistumsverweser Drobe zum
Bischof von Paderborn ernannt worden. Allen
diesen wurde der Bischofseid erlassen und die
staatliche Anerkennung erteilt. Von der Vollmacht
zur „Begnadigung“ von Bischöfen machte da-
gegen die Regierung einstweilen keinen Gebrauch.
Eine Immediateingabe aus der Erzdiözese Köln
um Gestattung der Rückkehr des Erzbischofs wurde
dem Kultusminister zur Bescheidung übergeben
und von diesem ohne Angabe von Gründen schroff
abgelehnt: er sei „nicht in der Lage, das Gesuch
zu befürworten"“. Die Bestimmung der Novelle
über Dispensation von Geistlichen blieb zunächst
ebenfalls ein toter Buchstabe; der Papst gestattete
die Einholung solcher Dispense nicht, weil die
Hilfsseelsorge noch nicht freigegeben war, die
dispensierten Geistlichen also nicht hätten ver-
wandt werden können.
Die Verhandlungen mit Rom wurden
ununterbrochen, zum Teil durch persönlichen Brief-
wechsel zwischen Papst und Kaiser, fortgesetzt. Die
Regierung verlangte noch immer vor allem andern
die Anerkennung der Anzeigepflicht und die tat-
sächliche Ausübung derselben, wenn auch „unter
Einschränkung der Kategorien, für welche sie be-
ansprucht werde“; unter dieser Voraussetzung war
sie bereit, eine Revision der „Kampfgesetze“ vor-
zunehmen. Die Kurie hingegen bestand auf einer
Revision aller der Kirche nachteiligen Bestim-
mungen, zunächst auf Maßregeln, um die Frei-
heit der kirchlichen Jurisdiktion und der Erziehung
der Geistlichen zu gewährleisten; dafür wollte sie
pari passu die Gestattung der Anzeige eintreten
lassen. Eine Übereinstimmung wurde nicht erzielt.
Doch zwang wiederum die parlamentarische Lage
die Regierung, einen Schritt weiter zu gehen.
Im Abgeordnetenhause in welchem bei
den Wahlen im Okt. 1882 das Zentrum sich
glänzend behauptet — mit 94 Mitgliedern und
2 Hospitanten —, die Nationalliberalen starke
Einbuße erlitten und die Konservativen an Zahl
zugenommen hatten, waren die Anträge auf Frei-
gebung des Messelesens und Sakramentespendens
und auf Beseitigung des Sperrgesetzes vom 17. Jan.
1883 durch den Abgeordneten Windthorst wieder
eingebracht worden. Gleichzeitig ließ derselbe Ab-
geordnete dem Reichstag seinen schon einmal an-
genommenen Antrag auf Aufhebung des Priester-
ausweisungsgesetzes wiederum zugehen. Dieser
war nämlich am 5. Juli 1882 vom Bundesrat
abgelehnt worden. Auf eine desfallsige Inter-
pellation Windthorsts am 13. Dez. 1882 hatte
Kulturkampf ufw.
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Staatssekretär v. Bötticher die Angabe von Grün-
den kurzweg verweigert. Im Abgeordnetenhause,
wo bisher die kirchenpolitischen Anträge des Zen-
trums stets in der Minorität geblieben waren,
wurde zwar auch jetzt der Antrag Windthorsts auf
Freigeben des Messelesens und Sakramentespen-
dens am 25. April abgelehnt, dagegen eine in der
Form mildere, dem Inhalt nach aber weiter-
gehende, von der konservativen Fraktion vorge-
schlagene Resolution (Resolution Althaus)
angenommen, obwohl sie von der Regierung be-
kämpft wurde. Diese sprach die „Erwartung“ aus,
„daß die Staatsregierung, sobald es die mit der
Kurie schwebenden Verhandlungen angezeigt er-
scheinen lassen, eine Vorlage wegen organischer
Revision der Maigesetze machen und ferner in Er-
wägung ziehen werde, ob nicht vorweg in Über-
einstimmung mit dem Grundgedanken der organi-
schen Revision das Sakramentespenden und Messe-
lesen straffrei gemacht werden könne“.
4. Nun wurde am 5. Juni 1883 eine dritte
kirchenpolitische Novelle vorgelegt, welche
ebenso wie die beiden ersten aus einseitiger Ent-
schließung der Regierung hervorgegangen war.
Die Durchberatung im Hause und in der Kom-
mission geschah verhältnismäßig glatt und rasch.
Am 11. Juli wurde das Gesetz auf der Insel
Mainau im Bodensee — daher Mainau-
Gesetz — vom König sanktioniert. Das „Ge-
setz betr. Abänderungen der kirchenpolitischen
Gesetze“ vom 11. Juli 1883 hob die Anzeige-
pflicht auf „für die Ubertragung von Seelsorge-
ämtern, deren Inhaber unbedingt abberufen wer-
den dürfen“, also für die meisten Kaplaneien und
Vikariate, und „für die Anordnung einer Hilfs-
leistung oder einer Stellvertretung in einem geist-
lichen Amte, sofern letztere nicht in der Bestellung
des Verwesers eines Pfarramtes besteht“, also für
„Hilfsgeistliche“ in erledigten Pfarreien, sofern
diesen nur nicht eine förmliche Verwesung über-
tragen wurde; beschränkte die Zuständigkeit des
kirchlichen Gerichtshofes, dehnte die Straffreiheit
der Vornahme einzelner geistlichen Amtshand-
lungen, welche die Novelle von 1880 nur gewährt
hatte in „erledigten oder solchen Pfarreien, deren
Inhaber an der Ausübung des Amtes verhindert
ist", aus auf „alle geistlichen Amter und ohne
Rücksicht darauf, ob das Amt besetzt ist oder
nicht“, und gab die „Vornahme einzelner Weihe-
handlungen, welche von staatlich anerkannten Bi-
schöfen in erledigten Diö5zesen vollzogen werden“,
frei. Durch die letztere Bestimmung wurde den
Bischöfen ermöglicht, in den verwaisten Diözesen
das Sakrament der Firmung zu spenden, was
vorher von den Gerichten als maigesetzwidrig be-
straft worden war. Die Bischöfe machten von dieser
Möcglichkeit sofort Gebrauch. Nachdem die Hilfs-
seelsorge freigegeben war, gestattete der Papst ohne
grundsätzliche Anerkennung der betreffenden mai-
gesetzlichen Vorschriften „für die Vergangenheit
und für dies eine Mal“ die Einholung der in der