Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Kultusminister von den maigesetzlichen Erforder- 
nissen zur Bekleidung eines geistlichen Amtes 
dispensieren dürfen. Die Möglichkeit der Ernen- 
nung von Pfarrern durch Patrone und Gemeinden 
(sog. Staatspfarrern) wurde abgeschafft. 
Während der parlamentarischen Verhandlungen 
über das Gesetz waren durch päpstliches Breve der 
Bistumsverweser Hötting zum Bischof von Osna- 
brück, Propst Herzog von Berlin zum Fürstbischof 
von Breslau und Bistumsverweser Drobe zum 
Bischof von Paderborn ernannt worden. Allen 
diesen wurde der Bischofseid erlassen und die 
staatliche Anerkennung erteilt. Von der Vollmacht 
zur „Begnadigung“ von Bischöfen machte da- 
gegen die Regierung einstweilen keinen Gebrauch. 
Eine Immediateingabe aus der Erzdiözese Köln 
um Gestattung der Rückkehr des Erzbischofs wurde 
dem Kultusminister zur Bescheidung übergeben 
und von diesem ohne Angabe von Gründen schroff 
abgelehnt: er sei „nicht in der Lage, das Gesuch 
zu befürworten"“. Die Bestimmung der Novelle 
über Dispensation von Geistlichen blieb zunächst 
ebenfalls ein toter Buchstabe; der Papst gestattete 
die Einholung solcher Dispense nicht, weil die 
Hilfsseelsorge noch nicht freigegeben war, die 
dispensierten Geistlichen also nicht hätten ver- 
wandt werden können. 
Die Verhandlungen mit Rom wurden 
ununterbrochen, zum Teil durch persönlichen Brief- 
wechsel zwischen Papst und Kaiser, fortgesetzt. Die 
Regierung verlangte noch immer vor allem andern 
die Anerkennung der Anzeigepflicht und die tat- 
sächliche Ausübung derselben, wenn auch „unter 
Einschränkung der Kategorien, für welche sie be- 
ansprucht werde“; unter dieser Voraussetzung war 
sie bereit, eine Revision der „Kampfgesetze“ vor- 
zunehmen. Die Kurie hingegen bestand auf einer 
Revision aller der Kirche nachteiligen Bestim- 
mungen, zunächst auf Maßregeln, um die Frei- 
heit der kirchlichen Jurisdiktion und der Erziehung 
der Geistlichen zu gewährleisten; dafür wollte sie 
pari passu die Gestattung der Anzeige eintreten 
lassen. Eine Übereinstimmung wurde nicht erzielt. 
Doch zwang wiederum die parlamentarische Lage 
die Regierung, einen Schritt weiter zu gehen. 
Im Abgeordnetenhause in welchem bei 
den Wahlen im Okt. 1882 das Zentrum sich 
glänzend behauptet — mit 94 Mitgliedern und 
2 Hospitanten —, die Nationalliberalen starke 
Einbuße erlitten und die Konservativen an Zahl 
zugenommen hatten, waren die Anträge auf Frei- 
gebung des Messelesens und Sakramentespendens 
und auf Beseitigung des Sperrgesetzes vom 17. Jan. 
1883 durch den Abgeordneten Windthorst wieder 
eingebracht worden. Gleichzeitig ließ derselbe Ab- 
geordnete dem Reichstag seinen schon einmal an- 
genommenen Antrag auf Aufhebung des Priester- 
ausweisungsgesetzes wiederum zugehen. Dieser 
war nämlich am 5. Juli 1882 vom Bundesrat 
abgelehnt worden. Auf eine desfallsige Inter- 
pellation Windthorsts am 13. Dez. 1882 hatte 
  
Kulturkampf ufw. 
  
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Staatssekretär v. Bötticher die Angabe von Grün- 
den kurzweg verweigert. Im Abgeordnetenhause, 
wo bisher die kirchenpolitischen Anträge des Zen- 
trums stets in der Minorität geblieben waren, 
wurde zwar auch jetzt der Antrag Windthorsts auf 
Freigeben des Messelesens und Sakramentespen- 
dens am 25. April abgelehnt, dagegen eine in der 
Form mildere, dem Inhalt nach aber weiter- 
gehende, von der konservativen Fraktion vorge- 
schlagene Resolution (Resolution Althaus) 
angenommen, obwohl sie von der Regierung be- 
kämpft wurde. Diese sprach die „Erwartung“ aus, 
„daß die Staatsregierung, sobald es die mit der 
Kurie schwebenden Verhandlungen angezeigt er- 
scheinen lassen, eine Vorlage wegen organischer 
Revision der Maigesetze machen und ferner in Er- 
wägung ziehen werde, ob nicht vorweg in Über- 
einstimmung mit dem Grundgedanken der organi- 
schen Revision das Sakramentespenden und Messe- 
lesen straffrei gemacht werden könne“. 
4. Nun wurde am 5. Juni 1883 eine dritte 
kirchenpolitische Novelle vorgelegt, welche 
ebenso wie die beiden ersten aus einseitiger Ent- 
schließung der Regierung hervorgegangen war. 
Die Durchberatung im Hause und in der Kom- 
mission geschah verhältnismäßig glatt und rasch. 
Am 11. Juli wurde das Gesetz auf der Insel 
Mainau im Bodensee — daher Mainau- 
Gesetz — vom König sanktioniert. Das „Ge- 
setz betr. Abänderungen der kirchenpolitischen 
Gesetze“ vom 11. Juli 1883 hob die Anzeige- 
pflicht auf „für die Ubertragung von Seelsorge- 
ämtern, deren Inhaber unbedingt abberufen wer- 
den dürfen“, also für die meisten Kaplaneien und 
Vikariate, und „für die Anordnung einer Hilfs- 
leistung oder einer Stellvertretung in einem geist- 
lichen Amte, sofern letztere nicht in der Bestellung 
des Verwesers eines Pfarramtes besteht“, also für 
„Hilfsgeistliche“ in erledigten Pfarreien, sofern 
diesen nur nicht eine förmliche Verwesung über- 
tragen wurde; beschränkte die Zuständigkeit des 
kirchlichen Gerichtshofes, dehnte die Straffreiheit 
der Vornahme einzelner geistlichen Amtshand- 
lungen, welche die Novelle von 1880 nur gewährt 
hatte in „erledigten oder solchen Pfarreien, deren 
Inhaber an der Ausübung des Amtes verhindert 
ist", aus auf „alle geistlichen Amter und ohne 
Rücksicht darauf, ob das Amt besetzt ist oder 
nicht“, und gab die „Vornahme einzelner Weihe- 
handlungen, welche von staatlich anerkannten Bi- 
schöfen in erledigten Diö5zesen vollzogen werden“, 
frei. Durch die letztere Bestimmung wurde den 
Bischöfen ermöglicht, in den verwaisten Diözesen 
das Sakrament der Firmung zu spenden, was 
vorher von den Gerichten als maigesetzwidrig be- 
straft worden war. Die Bischöfe machten von dieser 
Möcglichkeit sofort Gebrauch. Nachdem die Hilfs- 
seelsorge freigegeben war, gestattete der Papst ohne 
grundsätzliche Anerkennung der betreffenden mai- 
gesetzlichen Vorschriften „für die Vergangenheit 
und für dies eine Mal“ die Einholung der in der
	        
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