Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Novelle von 1882 vorgesehenen Dispense. Zu 
derselben bot der Kultusminister alsbald die Hand. 
Von den eingehenden Dispensgesuchen wurden 
1235 genehmigt; die Dispensierten wurden sofort 
als „Hilfsgeistliche“ in den verwaisten Pfarreien 
angestellt und konnten so der schlimmsten Seel- 
sorgenot abhelfen. Dagegen wurde 178 Geistlichen 
der Dispens verweigert, weil sie auf Anstalten, zu 
Rom oder Innsbruck, studiert hatten, die von Je- 
suiten geleitet wurden. Nun endlich entschloß sich 
auch die Regierung, von dem seit 31. Mai 1882 
in Kraft stehenden Bischofsparagraphen Gebrauch 
zu machen: durch Kabinettsorder vom 3. Dez. 
1883 wurde der Bischof von Limburg, vom 
21. Jan. 1884 der Bischof von Münster „be- 
gnadigt“. Die Rückkehr der beiden Erzbischöfe 
von Köln und Posen aber wollte die Regierung 
auf keinen Fall zugestehen. Als am 18. Jan. 
1884 das Abgeordnetenhaus den schon mehrfach 
eingebrachten und stets abgelehnten Antrag des 
Abgeordneten Peter Reichensperger betr. Wieder- 
herstellung der Art. 15, 16 und 18 der preußi- 
schen Verfassungsurkunde von neuem beriet, er- 
klärte der Kultusminister, die Begnadigung der 
beiden Erzbischöfe gehöre zu den „längst abgetanen 
Dingen“; er fügte hinzu: „Von den gegenwär- 
tigen Ministern wird kein einziger, wenn an ihn 
die Frage herantritt, die Begnadigungsorder der 
beiden Erzbischöfe gegenzuzeichnen, seinen Sitz 
innebehalten.“ Der Antrag wurde wiederum 
abgelehnt, ebenso am 5. März 1884 der Antrag 
des Abgeordneten Windthorst auf Aufhebung des 
Sperrgesetzes. Am 31. Dez. 1883 hatte der 
„Staatsanzeiger“ die Aufhebung der Sperre in 
den Diözesen Ermland, Kulm und Hildesheim, 
deren Bischöfe nicht „abgesetzt“ worden waren, 
gemeldet; am 27. März 1884 erfolgte dieselbe 
Maßregel für die Erzdiözese Köln, deren Erz- 
bischof im Auslande weilte. Damit war die Wirk- 
samkeit des Sperrgesetzes beschränkt auf die Erz- 
diözese Posen. Am 31. März interpellierte der 
Abgeordnete v. Jazdzewski dieserhalb im Abgeord- 
netenhause. Der Kultusminister verweigerte die 
Angabe eines Grundes; man nahm allgemein an, 
derselbe werde in den Gefahren des „Polonis- 
mus“ gefunden. 
5. Von dieser Zeit an nahm die Regierung 
eine abwartende Haltung ein. Da die Vollmachten 
der dritten Novelle am 1. April 1884 abliefen, 
erwartete man beim Herannahen dieses Zeit- 
punktes eine weitere Novelle. Doch erfolgte die 
Vorlage einer solchen nicht. Die Regierung meinte 
ihrerseits übergenug entgegengekommen zu sein, 
um nun die Gegenkonzessionen des Papstes ab- 
warten zu können. Daneben glaubte sie, daß jetzt, 
nachdem die schlimmsten Härten der Maigesetz- 
gebung gemildert waren, das katholische Volk und 
die Geistlichkeit über kurz oder lang an den neuen 
Zustand sich gewöhnen werde; alsdann müsse es 
ihr leicht werden, die Kurie zu größeren Zu- 
geständnissen zu nötigen. Auch mögen die aus 
Kulturkampf ufw. 
  
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Anlaß der drei Novellen auf protestantischer Seite 
neu erwachten Ausbrüche antikatholischer Leiden- 
schaftlichkeit, welche namentlich bei Gelegenheit 
des Lutherjubiläums am 12. Sept. 1883 sich 
kundgaben, der Regierung eine Unterbrechung der 
kirchenpolitischen Abänderungsgesetzgebung ratsam 
haben erscheinen lassen. 
Um so mehr drängte das katholische Volk 
vorwärts, damit der Kulturkampf nicht „ver- 
sumpfe“. Die Hilfsgeistlichen konnten nur eine 
sehr beschränkte Wirksamkeit entfalten; kein Pfarrer 
konnte angestellt, kein Seminar eröffnet werden. 
Wenn die Abänderung der Maigesetze nicht rascher 
fortschritt, mußte bald dieselbe Seelsorgernot sich 
wieder einstellen wie vor dem Jahre 1880. Im 
Abgeordnetenhause stellte daher das Zentrum 
durch den Abgeordneten Windthorst zunächst den 
Antrag, „die Erwartung auszusprechen, die 
Staatsregierung wolle in Ausführung der vom 
Hause der Abgeordneten am 25. April 1883 ge- 
faßten Resolution (Resolution Althaus) dem 
Landtag nunmehr baldigst und spätestens in 
nächster Session den Entwurf eines Gesetzes 
betr. organische Revision der bestehenden kir- 
chenpolitischen Gesetzgebung vorlegen“. Am 
17. Mai 1884 wurde der Antrag verhandelt. 
Der Kultusminister erklärte zum erstenmal, die 
Regierung lehne eine Revision nicht prinzipiell 
abz er sügte aber hinzu, sie werde nur dann vor- 
gehen, wenn sie durch päpstliche Garantien sicher 
sei, mit der Gesetzgebung zu einer Art Abschluß 
zu gelangen; solche Garantien lägen noch nicht 
vor. Nun stimmten die Konservativen gegen den 
Antrag, der mit 168 gegen 116 Stimmen fiel. 
Im Reichstag kam am 11. Juni 1884 der von 
Windthorst wieder eingebrachte Antrag auf Auf- 
hebung des Priesterausweisungsgesetzes aufs neue 
zur Verhandlung und wurde am 26. Juni in 
dritter Lesung mit 246 gegen 34 Stimmen an- 
genommen. Trotz dieser überwältigenden Mehr- 
heit gab der Bundesrat dem Beschlusse wiederum 
keine Folge; doch genehmigte er auf Antrag 
Preußens am 1. Juli die Wiederverleihung der 
Staatsangehörigkeit an einzelne expatriierte Geist- 
liche. Daraufhin wurden die unter Falk aus- 
gewiesenen 280 Priester bis auf 27 begnadigt, 
welche teils nicht um Begnadigung nachgesucht 
hatten, teils gestorben waren. Unter den Kultus- 
ministern v. Puttkamer und v. Goßler waren 
Ausweisungen nicht mehr vorgekommen. Als am 
3. Dez. 1884 vom Abgeordneten Windthorst im 
Reichstag zum drittenmal der Antrag gestellt 
wurde, nun auch das Gesetz selbst aufzuheben, 
begründete Fürst Bismarck seine Aufrechterhaltung 
mit den Zuständen in den polnischen Bezirken, 
welche die Anwendung des Gesetzes vielleicht noch 
einmal nötig machen könnten; jedenfalls wolle er 
das Gesetz nicht umsonst weggeben: „Bis wir die 
Farbe und das Gepräge der ersten päpstlichen 
Konzession, die uns gemacht werden könnte, deut- 
lich und faßlich in der Hand haben, so lange
	        
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