Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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erregte beim katholischen Volle steigenden Unwillen, 
der auch bei den parlamentarischen Verhandlungen 
zum Ausdruck kam. Als am 22. April 1885 die 
aufs neue eingebrachten Anträge des Abgeordneten 
Windthorst auf Aufhebung des Sperrgesetzes und 
auf Freigebung des Messelesens und Sakramente- 
spendens im Abgeordnetenhause auf der Tages- 
ordnung standen, wurden sie zwar wiederum ver- 
worfen; aber die Konservativen hatten erklärt, sie 
lehnten dieselben nur mehr ab aus Rücksicht auf 
die schwebenden diplomatischen Verhandlungen. 
Vereinzelt noch vorgekommene scharfe Maßregeln 
der Behörden fanden selbst auf liberaler und kon- 
servativer Seite abfällige Beurteilung und mußten 
mehr als einmal von der Regierung desavouiert 
werden. Ausfsehen erregte es, daß die Anzeige- 
pflicht von der „Norddeutschen Allgem. Zeitung“ 
als an sich wertlos bezeichnet wurde; die Be- 
willigung derselben sei nur eine „Ehrensache“ für 
die Regierung. Die ganze Lage drängte den 
Fürsten Bismarck mit Macht dahin, die Beendi- 
gung des kirchenpolitischen Konfliktes zu beschleu- 
nigen, um sich so für seine sonstige innere Politik 
einen günstigeren Boden zu schaffen. Er trat da- 
her nun endlich einer wirklichen Revision des ge- 
samten maigesetzlichen Systems näher. 
Die Verhandlungen mit Rom hatten inzwischen 
durch mehrere Umstände bedeutend freundlichere 
Formen angenommen. Im Jahre 1882 hatte 
Prinz Heinrich, der zweite Sohn des Kron- 
prinzen, dem Papste einen Besuch gemacht. Am 
18. Dez. 1883 war der Kronprinz selbst auf der 
Rückreise von Spanien vom Papste empfangen 
und mit der größten Auszeichnung behandelt wor- 
den. Als die deutsche Regierung wegen der von 
ihr besetzten Karolineninseln mit Spanien, welches 
diese als sich gehörig betrachtete, in einen Streit 
geriet, der bedenklich zu werden drohte, hatte auf 
Vorschlag des Fürsten Bismarck im Sept. 1885 
Papst Leo XIII. die Vermittlung übernommen 
und zu einem beide Teile befriedigenden Abschluß 
geführt; am 17. Dez. 1885 wurde zu Rom das 
diesbezügliche Protokoll unterzeichnet. Dieser 
wichtige Dienst führte nun endlich zur Lösung der 
letzten und schwierigsten Personenfrage, indem der 
Papst gegen feste Zusicherungen die Resignation des 
Kardinals Ledochowskiannahm und zu seinem Nach- 
folger einen Kandidaten deutscher Nationalität, den 
Propst Dinder von Königsberg, akzeptierte, welcher 
am 3. März 1886 durch päpstliches Breve zum Erz- 
bischof von Gnesen-Posen ernannt wurde. Er 
mußte noch wie alle früheren vom Bischofseide 
entbunden werden, bis eine königliche Verord- 
nung vom 13. Febr. 1887 die vor dem Kultur- 
kampf übliche Form des Bischofseides wieder 
herstellte. 
In den kirchenpolitischen Verhandlungen selbst 
verließ jetzt die Regierung das frühere System, 
nach halbamtlichem Ausforschen über die Ansichten 
der Kurie mit selbständigen Gesetzentwürfen vor- 
zugehen, und begann offen Verhandlungen 
Kulturkampf usw. 
  
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mit dem Apostolischen Stuhl über die 
weiteren Maßregeln. Im Januar 1886 wurde 
Bischof Kopp von Fulda zum Mitglied des 
Herrenhauses ernannt und am 15. Febr. schon, 
abweichend von dem bisherigen Gebrauch, dieser 
Körperschaft ein vierter kirchenpolitischer 
Gesetzentwurf, und zwar diesmal von grö- 
ßerer Tragweite als die drei bisherigen, vorgelegt. 
Er behandelte die Vorbildung des Klerus und die 
kirchliche Jurisdiktion und enthielt diejenigen Zu- 
geständnisse, welche die Regierung dafür zugesagt 
hatte, daß der Papst den Verzicht der beiden Erz- 
bischöfe von Köln und Posen auf ihre Stühle 
angenommen hatte. Gleichzeitig gingen dem Ab- 
geordnetenhause eine Anzahl „Polenvorlagen“ zur 
Bekämpfung des polnischen Elementes in Posen 
und Westpreußen zu, durch welche, wie Fürst Bis- 
marck am 12. April im Herrenhause erklärte, „der 
eigentliche Zweck der Maigesetze hoffentlich er- 
reicht“ werde. 
Das Herrenhaus verwies die Vorlage 
zunächst an eine Kommission, in welche Bischof 
Kopp gewählt wurde. Es kam zu weitläufigen 
Verhandlungen, bei denen Bischof Kopp die mög- 
lichste Verbesserung des Entwurfes anstrebte, aber 
nur teilweise erreichte. Unter dem Eindruck der 
Vorgänge in der Kommission des Herrenhauses 
hatte Kardinal = Staatssekretär Jacobini am 
26. März Herrn v. Schlözer mitgeteilt, daß sofort 
nach Annahme des Entwurfes mit den von Bischof 
Kopp beantragten Anderungen der Heilige Vater 
die Anzeige der Pfarrer „für die gegenwärtig 
vakanten Pfarreien“ anordnen werde. Die Ant- 
wort des Fürsten Bismarck ging dahin, daß der 
Entwurf mit den Amendements schwerlich die 
parlamentarische Mehrheit erlangen werde, wenn 
der Heilige Stuhl nicht zustimme, „die ständige 
Anzeige schon jetzt zu gestatten“. „Von dem 
Ernste dieser peinlichen Lage durchdrungen“, ließ 
nunmehr der Papst am 4. April erklären, „daß, 
sobald der Heilige Stuhl offiziell die Versicherung 
erhalten haben wird, daß man in nächster Zukunft 
eine volle und unmitlelbare Revision der Gesetze 
unternehmen wird, der Heilige Vater alsbald 
die ständige Anzeige gewährt.“ — Als nun am 
12. April die Vorlage im Herrenhause zur 
Verhandlung kam, erklärte Fürst Bismarck die 
verlangte Zusage der Revision der Maigesetze für 
unbedenklich und trat persönlich, wenn auch nur 
„als Mitglied des Hauses“, für die Anträge des 
Bischofs Kopp ein. Daraufhin wurde die Vor- 
lage einschließlich dieser Anträge mit 123 gegen 
46 Stimmen angenommen. Fürst Bismarck hatte 
in seiner Rede die Maigesetzgebung rückhaltlos 
preisgegeben; die Bestimmungen über die Er- 
ziehung des Klerus nannte er „eine Jagd zu 
Pferde hinter wilden Gänsen, eine Jagd, die nie 
zum Ziele führt“, den appel comme d’abus 
einen „Degenstich ins Wasser“; „vieles von dem, 
was man für Säulen des Staates zu erklären 
geneigt ist“, meinte er, „ist nur Stuck und Mauer-
	        
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