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putz, der für das Bestehen des preußischen Staates
nicht durchaus notwendig ist, ja geradezu ent-
behrlich sein würde“; dagegen hielt er fest an der
Bekämpfung des „Polonismus“: „Wenn es uns
gelingt, den Polonismus auf dem Wege zu be-
kämpfen, den wir neuerdings versucht haben, so
gibt uns das einen Ersatz für manche Streit-
mittel, die wir auf dem kirchlichen Gebiete nicht
entbehren konnten.“
Die formelle Zusicherung einer weiteren Re-
vision der kirchenpolitischen Gesetze wurde der
Kurie am 23. April erteilt, worauf Kardinal-
Staatssekretär Jacobini am 25. April der Re-
gierung mitteilte, es sei die Absicht des Papstes,
„daß die Anzeige für die gegenwärtig erledigten
Pfarreien schon von jetzt ab beginne und ohne
Verzögerung erfolge“. Gleichzeitig erging vom
Heiligen Stuhl an sämtliche preußischen Ordi-
nariate der Auftrag, die Kandidaten für diese
Pfarreien anzuzeigen. In den Verhandlungen
im Abgeordnetenhause am 4. Mai wieder-
holte Fürst Bismarck seine Verurteilung der Mai-
gesetzgebung mit demselben Nachdruck und be-
tonte, es handle sich nicht um einen definitiven
Friedensschluß, sondern um Herstellung eines
„modus vivendi, d. h. einen Versuch, mitein-
ander in Frieden zu leben“: „Ich mache diesen
Versuch in dem vom König geteilten und an-
geregten Vertrauen nicht nur zum Papst- son-
dern auch zu unsern katholischen Landsleuten, daß
sie ehrlich die Hand dazu bieten werden, auf dem
Raume, welchen wir frei machen von dem Schutt,
den die Maigesetze darauf gelassen haben — denn
Trümmer sind sie ja nur noch —, den Friedens-
tempel mit uns zu errichten, die Friedenseiche
mit uns ehrlich pflanzen, begießen und pflegen
zu wollen. Ich meinerseits werde aufrichtig die
Hand dazu bieten.“ — Am 10. Mai erfolgte
im Abgeordnetenhause die Annahme der Vorlage
in der unveränderten Fassung des Herrenhauses
ohne Kommissionsberatung mit 280 gegen 108
Stimmen. Am 21. Mai wurde sie vom König
sanktioniert.
Das „Gesetz betr. Abänderung der
kirchenpolitischen Gesetze“ vom 21. Mai
1886 schafft die wissenschaftliche Staatsprüfung
vollständig und damit auch die „Fleißzeugnisse“
der Novelle von 1882 ab. Das theologische
Studium an den bischöflichen theologischen Lehr-
anstalten, welche bis zum Jahre 18783 bestanden
haben, wird freigegeben, doch nur für Studierende
aus dem betreffenden bischöflichen Sprengel. Die
Wiedereröffnung der Anstalten für Posen-Gnesen
und Kulm wird einstweilen nicht zugelassen, soll
aber in Zukunft durch königliche Verordnung ge-
stattet werden können. Dem Kultusminister sind
nur die Statuten, der Lehrplan, welcher dem Uni-
versitätslehrplan gleichartig zu gestalten ist, und
die Namen der Leiter und Lehrer dieser Anstalten
mitzuteilen; letztere müssen Deutsche sein und die
wissenschaftliche Befähigung haben, an einer deut-
Staatslexikon. III. 3. Aufl.
Kulturkampf usw.
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schen Universität in ihrer Disziplin zu lehren.
Bischöfliche Konvikte für Zöglinge, welche staat-
liche Gymnasien, Universitäten und bischöfliche
theologische Lehranstalten besuchen, Priestersemi-
nare zur praktischen Vorbildung der Geistlichen
und Demeritenanstalten werden unter ähnlichen
Bedingungen wieder gestattet. Die päpfstliche
Disziplinargewalt wird wieder zugelassen, der
Gerichtshof für kirchliche Angelegenheiten und die
Berufung an den Staat aufgehoben. Die Voll-
macht der Regierung, die Bistumsverweser von
dem vorgeschriebenen Eide zu dispensieren, wird
zu einer dauernden gemacht. Die Versagung kirch-
licher Gnadenmittel soll fortan straflos sein, ebenso
das Lesen stiller Messen und das Spenden der
Sterbesakramente. Die Minister des Innern und
des Kultus werden ermächtigt, den zugelassenen
krankenpflegenden Orden eine weitere Reihe von
Nebentätigkeiten aus dem Gebiete der christlichen
Charitas zu gestatten. Der Vorsitz im Kirchen-
vorstand wird da, wo er vor 1875 nicht einem
weltlichen Mitgliede zustand, wieder dem Pfarrer
übertragen, doch mit Ausnahme der Dihzesen
Posen-Gnesen und Kulm, wo die Reglung im
Wege königlicher Verordnung geschehen soll.
Alsbald nach Verkündigung dieses Gesetzes
teilte Kardinal = Staatssekretär Jacobini durch
Note vom 1. Juni 1886 der Regierung mit, daß
die Anzeigepflicht „von jetzt ab endgültig und eine
ständige" sein werde. Die Bischöfe begannen so-
fort mit der Wiedererrichtung der theologischen
Lehranstalten und praktischen Priesterseminare;
auch Knabenkonvikte bei staatlichen Gymnasien
wurden mehrfach wieder ins Leben gerufen. Die
theologische Lehranstalt in Kulm wurde durch
königliche Verordnung wieder zugelassen. Der
Kultusminister erteilte dann im Sommer 1886
auch die Dispense für diejenigen Kandidaten der
Theologie, welche in Rom und Innsbruck studiert
hatten. Im Jan. 1887 gewährte ein Reskript der
Minister des Innern und des Kultus den zuge-
lassenen krankenpflegenden Orden einige Erleichte-
rungen bei Aufnahme neuer Mitglieder.
2. Die in der Note vom 23. April 1886 dem
Papst für die Gestattung der Anzeigepflicht zu-
gesagte fünfte kirchenpolitische Novelle
wurde zu Anfang des Jahres 1887 von der Re-
gierung vorgelegt, aber in unnatürlicher Ver-
quickung mit der ihr an sich ganz fremden An-
gelegenheit des militärischen Septennates.
Das bisherige Septennat, d. h. die Festsetzung
der Präsenzstärke des deutschen Heeres für sieben
Jahre, ging am 31. März 1888 zu Ende. Schon
gegen Schluß des Jahres 1886 brachten die ver-
bündeten Regierungen eine neue Septennatsvor-
lage beim Reichstag ein. Eine Mehrheit für diese
war nicht vorhanden; namentlich verhielt sich auch
das Zentrum ablehnend. Deshalb erbat der Ge-
sandte v. Schlözer bei der Weihnachtsgratulation
eine Außerung des Papstes zur Umstimmung des
Zentrums. Unter dem 3. Jan. 1887 erging eine
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