Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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der Rechte und Interessen der Kirche und des 
katholischen Volksteiles niemals der notwendige 
Nachdruck versagt bleibe. Bei den Landtagswahlen 
von 1888 behauptete sich die Zentrumsfraktion 
des Abgeordnetenhauses vollständig mit 97 Mit- 
gliedern und 2 Hospitanten. Die Reichstagswahlen 
von 1890 brachte die Zentrumsfraktion des Reichs- 
tags auf ihre größte Höhe: 106 Mitglieder und 
7 Hospitanten. Auch alle folgenden Wahlen 
konnten der Zentrumsfraktion an sich weder im 
Reichstag noch im Abgeordnetenhause wesentlichen 
Abbruch tun. 
2. Nach Erlaß der beiden letzten kirchenpoli- 
tischen Novellen war die Meinung, daß nunmehr 
der Versuch gemacht werden sollte, auf Grund des 
geschaffenen mo dus vivendi zu einem fried- 
lichen Nebeneinanderleben von Kirche und 
Staat zu gelangen, welches sich im Laufe der Zeit 
bei beiderseitigem guten Willen zu einem freund- 
schaftlichen Hand-in-Hand-geher hätte 
entwickeln können. Wenn sich in der Folgezeit zu 
einer solchen Entwicklung nur schwache Ansätßze 
gezeigt haben, so liegt die Schuld durchaus auf 
seiten des Staates. Das Verhältnis der katholischen 
Kirche in Preußen zur Staatsregierung bewegt 
sich zwar seitdem in äußerlich friedlichen Formen, 
aber es ist in hohem Maße beeinträchtigt durch 
den Argwohn, mit dem die staatliche Bureaukratie 
dem Leben der katholischen Kirche nach wie vor 
gegenübersteht. Bei den Bischofswahlen sucht 
sie den dem Staat durch die Vereinbarungen mit 
dem päpstlichen Stuhle gewährten Einfluß weit 
über deren richtigen Sinn hinaus auszudehnen, 
so daß ein Schreiben des Kardinal-Staatssekre- 
tärs Rampolla an die deutschen Bischöse vom 
20. Juli 1900 die Domkapitel ermahnen mußte, 
die Rechte der Kirche zu wahren. Den religiösen 
Orden und Kongregationen der katholischen 
Kirche gegenüber werden die Beschränkungen, 
welche bestehen geblieben sind, in vielfach eng- 
herziger Weise gehandhabt, während das Diako- 
nissenwesen der evangelischen Kirche in völlig freier 
Weise sich entfalten und gebaren kann. Das die 
Rechtsstellung des gesamten katholischen Volks- 
teiles herabsetzende Jesuitengesetz blieb zu- 
nächst bestehen. Zwar hatte der Reichstag dem 
Antrage des Zentrums auf Aufhebung bereits am 
16. April 1894 bei der Gesamtabstimmung in 
dritter Lesung mit 168 gegen 145 Stimmen zuge- 
stimmt, aber der Bundesrat konnte sich nicht ent- 
schließen, auch seinerseits zuzustimmen, und behalf 
sich damit, daß er am 18. Juli 1894 eine Bekannt- 
machung erließ, nach welcher das Jesuitengesetz auf 
die bisher als „mit dem Orden der Gesellschaft 
Jesu verwandt“ behandelten Redemptoristen und 
Priester vom Heiligen Geist „fortan keine Anwen- 
dung zu finden habe“, wodurch diese beiden Kon- 
gregationen der sonst bestehenden landesrechtlichen 
Ordensgesetzgebung unterstellt wurden. Zum 
zweitenmal stimmte der Reichstag dem Antrage 
des Zentrums auf völlige Aufhebung des Jesuiten- 
Kulturkampf ufw. 
  
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gesetzes am 20. Febr. 1895 in dritter Lesung zu. 
Nun behalf sich der Bundesrat damit, daß er 
einen Beschluß gar nicht faßte. Als deshalb am 
13. Juni 1896 Graf Hompesch mit Unterstützung 
des ganzen Zentrums interpellierte, antwortete der 
Reichskanzler Fürst Hohenlohe, daß auch bis da- 
hin eine Beschlußfassung über den Antrag des 
Reichstags noch nicht erfolgt sei, daß aber die Ab- 
sicht einer weiteren Prüfung vorliege, ob außer 
den Redemptorisien und Priestern vom Heiligen 
Geist „noch die eine oder andere Genossenschaft, 
welche bisher den Wirkungen des Jesuitengesetzes 
unterstellt war, von diesen Wirkungen ebenfalls 
ausgenommen werden kann“. Man erwartete die 
Anwendung dieser Absicht auf die Lazaristen und 
die Dames du Sacré-Cceur. Aber nichts erfolgte. 
Wiederum stellte deshalb das Zentrum seinen An- 
trag auf Aufhebung des ganzen Jesuitengesetzes. 
Am 3. April 1897 wurde er zum drittenmal vom 
Reichstag in dritter Lesung angenommen. Gleich- 
zeitig stimmte das Zentrum, um dem Bundesrat 
eine goldene Brücke zu bauen, auch einem Antrage 
zu, welcher ihm aus andern Parteien entgegen- 
gebracht wurde und welcher nur den § 2 des Je- 
suitengesetzes (betreffend die Ausweisungs= bzw. 
Internierungsbefugnis gegenüber den einzelnen 
Mitgliedern der Gesellschaft Jesu) aufheben wollte; 
dieser Antrag wurde dann mit „großer Mehrheit"“ 
angenommen. Wiederum suchte der Bundesrat 
die Sache damit zu erledigen, daß er eine Be- 
schlußfassung gar nicht eintreten ließ. Wiederum 
brachte das Zentrum seinen Antrag ein, und 
wiederum wurde auch der Antrag eingebracht, nur 
§2 aufzuheben. Der Antrag des Zentrums wurde 
zum viertenmal vom Reichstag in dritter Lesung 
angenommen am 1. Febr. 1899, und gleichzeitig 
zum zweitenmal der Antrag auf Aufhebung von 
§ 2. Aber noch immer konnte der Bundesrat zu 
einer Beschlußfassung sich nicht entschließen. Un- 
ausgesetzte Bemühungen des Zentrums führten 
endlich dazu, daß wenigstens der Antrag, welcher 
§* 2 aufhob, vom Bundesrat, wenn auch mit 
knappster Mehrheit, angenommen wurde. Unter 
dem 8. März 1904 wurde er als Gesetz verkündigt. 
3. In der Stellung der Zentrumsfrak- 
tion zur Regierung war seit 1887 eine Ande- 
rung eingetreten. Die frühere schroffe Oppositions- 
stellung, welche notwendig gewesen war, um die 
Kulturkampfsgesetzgebung zu Fall zu bringen, war 
einer ruhigeren Tonart bei den parlamentarischen 
Verhandlungen gewichen, wenn auch selbstredend 
das Zentrum nicht darauf verzichten konnte, all- 
jährlich die Beschwerden des katholischen Volksteils 
auf kirchenpolitischem Gebiet vorzubringen. Eine 
ruhige, sachliche Prüfung aller Vorschläge der 
Regierung, welche das Zentrum nach wie vor ein- 
treten ließ, ohne jedoch die Selbständigkeit seiner 
Politik aufzugeben, hat in vielen Fällen dazu ge- 
führt, daß das Zentrum diese Vorschläge unter- 
stützen konnte. Die kaiserlichen Erlasse vom 4. Febr. 
1890 brachten eine Wendung der Sozialpolitik
	        
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