617
der Rechte und Interessen der Kirche und des
katholischen Volksteiles niemals der notwendige
Nachdruck versagt bleibe. Bei den Landtagswahlen
von 1888 behauptete sich die Zentrumsfraktion
des Abgeordnetenhauses vollständig mit 97 Mit-
gliedern und 2 Hospitanten. Die Reichstagswahlen
von 1890 brachte die Zentrumsfraktion des Reichs-
tags auf ihre größte Höhe: 106 Mitglieder und
7 Hospitanten. Auch alle folgenden Wahlen
konnten der Zentrumsfraktion an sich weder im
Reichstag noch im Abgeordnetenhause wesentlichen
Abbruch tun.
2. Nach Erlaß der beiden letzten kirchenpoli-
tischen Novellen war die Meinung, daß nunmehr
der Versuch gemacht werden sollte, auf Grund des
geschaffenen mo dus vivendi zu einem fried-
lichen Nebeneinanderleben von Kirche und
Staat zu gelangen, welches sich im Laufe der Zeit
bei beiderseitigem guten Willen zu einem freund-
schaftlichen Hand-in-Hand-geher hätte
entwickeln können. Wenn sich in der Folgezeit zu
einer solchen Entwicklung nur schwache Ansätßze
gezeigt haben, so liegt die Schuld durchaus auf
seiten des Staates. Das Verhältnis der katholischen
Kirche in Preußen zur Staatsregierung bewegt
sich zwar seitdem in äußerlich friedlichen Formen,
aber es ist in hohem Maße beeinträchtigt durch
den Argwohn, mit dem die staatliche Bureaukratie
dem Leben der katholischen Kirche nach wie vor
gegenübersteht. Bei den Bischofswahlen sucht
sie den dem Staat durch die Vereinbarungen mit
dem päpstlichen Stuhle gewährten Einfluß weit
über deren richtigen Sinn hinaus auszudehnen,
so daß ein Schreiben des Kardinal-Staatssekre-
tärs Rampolla an die deutschen Bischöse vom
20. Juli 1900 die Domkapitel ermahnen mußte,
die Rechte der Kirche zu wahren. Den religiösen
Orden und Kongregationen der katholischen
Kirche gegenüber werden die Beschränkungen,
welche bestehen geblieben sind, in vielfach eng-
herziger Weise gehandhabt, während das Diako-
nissenwesen der evangelischen Kirche in völlig freier
Weise sich entfalten und gebaren kann. Das die
Rechtsstellung des gesamten katholischen Volks-
teiles herabsetzende Jesuitengesetz blieb zu-
nächst bestehen. Zwar hatte der Reichstag dem
Antrage des Zentrums auf Aufhebung bereits am
16. April 1894 bei der Gesamtabstimmung in
dritter Lesung mit 168 gegen 145 Stimmen zuge-
stimmt, aber der Bundesrat konnte sich nicht ent-
schließen, auch seinerseits zuzustimmen, und behalf
sich damit, daß er am 18. Juli 1894 eine Bekannt-
machung erließ, nach welcher das Jesuitengesetz auf
die bisher als „mit dem Orden der Gesellschaft
Jesu verwandt“ behandelten Redemptoristen und
Priester vom Heiligen Geist „fortan keine Anwen-
dung zu finden habe“, wodurch diese beiden Kon-
gregationen der sonst bestehenden landesrechtlichen
Ordensgesetzgebung unterstellt wurden. Zum
zweitenmal stimmte der Reichstag dem Antrage
des Zentrums auf völlige Aufhebung des Jesuiten-
Kulturkampf ufw.
618
gesetzes am 20. Febr. 1895 in dritter Lesung zu.
Nun behalf sich der Bundesrat damit, daß er
einen Beschluß gar nicht faßte. Als deshalb am
13. Juni 1896 Graf Hompesch mit Unterstützung
des ganzen Zentrums interpellierte, antwortete der
Reichskanzler Fürst Hohenlohe, daß auch bis da-
hin eine Beschlußfassung über den Antrag des
Reichstags noch nicht erfolgt sei, daß aber die Ab-
sicht einer weiteren Prüfung vorliege, ob außer
den Redemptorisien und Priestern vom Heiligen
Geist „noch die eine oder andere Genossenschaft,
welche bisher den Wirkungen des Jesuitengesetzes
unterstellt war, von diesen Wirkungen ebenfalls
ausgenommen werden kann“. Man erwartete die
Anwendung dieser Absicht auf die Lazaristen und
die Dames du Sacré-Cceur. Aber nichts erfolgte.
Wiederum stellte deshalb das Zentrum seinen An-
trag auf Aufhebung des ganzen Jesuitengesetzes.
Am 3. April 1897 wurde er zum drittenmal vom
Reichstag in dritter Lesung angenommen. Gleich-
zeitig stimmte das Zentrum, um dem Bundesrat
eine goldene Brücke zu bauen, auch einem Antrage
zu, welcher ihm aus andern Parteien entgegen-
gebracht wurde und welcher nur den § 2 des Je-
suitengesetzes (betreffend die Ausweisungs= bzw.
Internierungsbefugnis gegenüber den einzelnen
Mitgliedern der Gesellschaft Jesu) aufheben wollte;
dieser Antrag wurde dann mit „großer Mehrheit"“
angenommen. Wiederum suchte der Bundesrat
die Sache damit zu erledigen, daß er eine Be-
schlußfassung gar nicht eintreten ließ. Wiederum
brachte das Zentrum seinen Antrag ein, und
wiederum wurde auch der Antrag eingebracht, nur
§2 aufzuheben. Der Antrag des Zentrums wurde
zum viertenmal vom Reichstag in dritter Lesung
angenommen am 1. Febr. 1899, und gleichzeitig
zum zweitenmal der Antrag auf Aufhebung von
§ 2. Aber noch immer konnte der Bundesrat zu
einer Beschlußfassung sich nicht entschließen. Un-
ausgesetzte Bemühungen des Zentrums führten
endlich dazu, daß wenigstens der Antrag, welcher
§* 2 aufhob, vom Bundesrat, wenn auch mit
knappster Mehrheit, angenommen wurde. Unter
dem 8. März 1904 wurde er als Gesetz verkündigt.
3. In der Stellung der Zentrumsfrak-
tion zur Regierung war seit 1887 eine Ande-
rung eingetreten. Die frühere schroffe Oppositions-
stellung, welche notwendig gewesen war, um die
Kulturkampfsgesetzgebung zu Fall zu bringen, war
einer ruhigeren Tonart bei den parlamentarischen
Verhandlungen gewichen, wenn auch selbstredend
das Zentrum nicht darauf verzichten konnte, all-
jährlich die Beschwerden des katholischen Volksteils
auf kirchenpolitischem Gebiet vorzubringen. Eine
ruhige, sachliche Prüfung aller Vorschläge der
Regierung, welche das Zentrum nach wie vor ein-
treten ließ, ohne jedoch die Selbständigkeit seiner
Politik aufzugeben, hat in vielen Fällen dazu ge-
führt, daß das Zentrum diese Vorschläge unter-
stützen konnte. Die kaiserlichen Erlasse vom 4. Febr.
1890 brachten eine Wendung der Sozialpolitik