Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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der verbündeten Regierungen nach der Richtung der- 
jenigen Sozialpolitik, welche das Zentrum seit dem 
Antrage des Grafen v. Galen vom Jahre 1877 
unablässig verlangt hatte. Als wegen dieser Wen- 
dung Fürst Bismarck am 19. März 1890 seinen 
Abschied nahm, war sein Nachfolger v. Caprivi 
durchaus auf das Zentrum angewiesen. Mehr 
und mehr wurde dieses jetzt durch geschickte Aus- 
nutzung der Lage aus der bloß ausschlaggebenden 
Partei zur führenden Partei des Reichstags. Die 
neuen sozialpolitischen Gesetze, das „Gesetz betr. 
die Gewerbegerichte“ vom 29. Juli 1890 und 
das „Gesetz betr. Abänderung der Gewerbeord- 
nung“ vom 1. Juni 1891, die sog. Arbeiterschutz- 
novelle, kamen unter entscheidender Mitarbeit des 
Zentrums zustande. Am 14. März 1891, wäh- 
rend der parlamentarischen Tagung starb der 
Abgeordnete Windthorst. Er wurde von seiten 
des Kaisers wie aller Parteien im Tode aufs 
höchste geehrt. In den letzten Jahren seines Lebens 
hatte er ebenso in positiver, die von ihm gebilligten 
Kulturkampf ufw. 
  
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des geführt, dessen Agitation seitdem eine Be- 
ruhigung auf interkonfessionellem Gebiet nicht 
aufkommen ließen. Von katholischer Seite wurde 
lediglich geantwortet durch die Gründung des 
„Volksvereins für das katholische 
Deutschland“ in Mainz im Nov. 1890 (die 
erste Einladung zum Beitritt erschien unter dem 
31. Jan. 1891), welcher unter der Agide des Ab- 
geordneten Windthorst sein Augenmerk in erster 
Linie auf die Bekämpfung der Irrtümer der So- 
zialdemokratie und die Unterstützung einer christ- 
lichen Sozialreform richtete. Unter dem Vorsitz 
des hochverdienten Fabrikanten Franz Brandts 
in München-Gladbach gedieh er bald zu hoher 
Blüte, ohne daß das so gegebene Beispiel auf das 
Vorgehen des Evangelischen Bundes mildernd 
eingewirkt hätte. Mehr und mehr richtete sich die 
Aufmerksamkeit der politischen Kreise des katho- 
lischen Volksteiles auf die beklagenswerte Tatsache, 
daß im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung 
und unter dem Drucke so vieler ungünstigen Ver- 
Ziele fördernder Weise einen bestimmenden Ein= hältnisse der katholische Volksteil auf manchen 
fluß auf die Gestaltung der staatlichen Verhältnisse Gebieten des staatlichen Lebens zurückgedrängt 
ausgeübt wie in den Tagen des Kulturkampfes worden und zurückgeblieben war. Erfreuliche An- 
gegenüber den von ihm bekämpften Zielen der Re= strengungen wurden seitdem gemacht, um das Ver- 
gierung als Führer der Opposition. Sein persön= säumte nachzuholen und dem katholischen Volksteil 
licher Charakterwar makellos undblieb unangetastet. auch praktisch diejenige Parität zu gewinnen, 
Seinen weltgeschichtlichen Sieg im Kulturkampf welche die preußische Verfassung von 1850 ihm 
hat er errungen gegen einen Fürsten Bismarck an rechtlich zugesprochen hat. Die große Aufgabe der 
der Spitze einer Minderheitspartei. Er war viel-= Sicherung einer christlichen Volksschule durch ein 
leicht der größte Parlamentarier und der größte I Schulgesetz ist inzwischen nur teilweise und 
katholische Staatsmann seines Jahrhunderts. Auch vungenügend gelöst und wird anscheinend noch 
nach seinem Tode wußte das Zentrum sich in große Schwierigkeiten machen. Das Schulauf- 
seiner Stellung zu erhalten. Bei den Reichstags= sichtsgesetz und der Falksche Erlaß vom 18. Febr. 
wahlen wie bei den Landtagswahlen von 1893 1876, welcher sogar den Religionsunterricht dem 
und 1898 behauptete es sich trefflich. Als im 
Jahre 1895 im Reichstag der Vorschlag des Prä- 
sidenten v. Levetzow, dem Altreichskanzler Fürsten 
Bismarck zu seinem 80. Geburtstag Glück zu 
wünschen, infolge des Widerspruches des Zen- 
trums keine Mehrheit fand und Herr v. Levetzow 
deswegen sein Amt niederlegte, übernahm das 
Zentrum den nach parlamentarischer Ubung ihm 
gebührenden Posten des ersten Präsidenten und 
fand in den Abgeordneten Freiherr v. Buol-Beren- 
berg und seit 1898 Graf Ballestrem Vertreter für 
diesen Posten, welche ihn mit bestem Erfolge ver- 
walteten. 
4. Obwohl das Zentrum seiner ihm durch die 
Verhältnisse zugefallenen Aufgabe im Reichstag in 
der besonnensten und loyalsten Weise gerecht wurde, 
so daß objektive Beschwerdegründe gegen seine 
Stellung billigerweise nicht geltend gemacht werden 
konnten, so wurde diese Stellung doch je mehr desto 
länger einem immer größer werdenden Teile des 
protestantisches Volkes ein Grund zu Unmut und 
Mißbehagen, die durch hetzerische Agitationen ge- 
nährt wurden. Schon nach der kirchenpolitischen 
Novelle von 1886 hatte die Unzufriedenheit mit 
dem Scheitern des Kulturkampfes am 5. Okt. 
1886 zur Stiftung des Evangelischen Bun- 
  
Staate zuweist, sind noch immer in Kraft, so daß 
die Berücksichtigung der katholischen Interessen in 
der Schule nach wie vor von dem unbeschränkten 
Ermessen des Kultusministeriums abhängt, in 
welchem die Katholische Abteilung nicht wieder- 
hergestellt und die Zahl der katholischen Räte ver- 
schwindend klein ist. Nach dem Abgange des Kultus- 
ministers v. Goßler, welcher am 10. März 
1891 seinen Abschied nahm, weil er gegenüber dem 
Widerstande des Abgeordneten Windthorst seinen 
Schulgesetzentwurf nicht durchbringen konnte, folgte 
zwar im Kultusministerium ein ernster, christlicher 
Mann, Graf v. Zedlitz-Trützschler, welcher 
ein Schulgesetz in christlichem Sinne einbrachte 
und durchsetzen wollte. Aber er scheiterte mit diesem 
Versuche und erbat am 18. März 1893 seinen 
Abschied. Unter seinen Nachfolgern Dr Bosse 
und Studt wurde der frühere Geist des Kultus- 
ministeriums wieder herrschend. Systematisch wird 
durch einfache Regierungsmaßregeln der kirchliche 
Einfluß in der Volksschule zurückgedrängt und der 
Charakter der Volksschule als Staatsanstalt ver- 
chärft. Der durch den Einfluß des Finanzministers 
v. Miquel neu angefachte und seitdem mit steigen- 
der Schärfe fortgesetzte Kampf gegen den „Polo- 
nismus“ findet sich zusammen mit den ver- 
  
  
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