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schiedensten Tendenzen, welche in den katholischen
Polen den Katholiken treffen und den an sich schon
ungerechten und unbilligen Kampf gegen die Polen
zum Nutzen einer fortschreitenden Protestantisie-
rung der polnischen Landesteile verwerten wollen.
Ein Teil der Schulfrage wurde gelöst durch das
Gesetzbetr. die Unterhallung der öffentlichen Volks-
schulen in Preußen vom 28. Juli 1906, welches
den konfessionellen Charakter der Volksschulen im
allgemeinen anerkannte und festlegte, aber doch
der Entwicklung von Simultanschulen einen brei-
ten Weg offen ließ. In der Sicherstellung der un-
veräußerlichen Rechte der Eltern und der Kirche auf
dem Gebiete der Schulen aller Stufen wird dauernd
die vornehmste Aufgabe der Katholiken Preußens
bestehen. Daneben wird das Streben nach voller
politischer Gleichberechtigung mit den Mitbürgern
protestantischen Bekenntnisses, nach Verwirklichung
der durch die Verfassung zugesicherten Parität auf
allen Gebieten des öffentlichen Lebens und nach
Beseitigung der auf vielen Gebieten bestehenden,
nicht selten schreienden Ungleichheiten auf katho-
lischer Seite niemals außer acht gelassen werden
dürfen.
5. Inzwischen hat die durch eine bösartige kon-
fessionelle Hetze stetig genährte Antipathie gegen
die starke Stellung des Zentrums im Reichstag
und die Unzufriedenheit mit der besonnenen, auch
die finanziellen Bedingungen unausgesetzt berück-
sichtigenden Politik der Fraktion einen schroffen
Umschlag der Stimmung in den Kreisen der
Reichsregierung bewirkt, welcher zu der Reichs-
tagsauflösung vom 13. Dez. 1906 führte. Eine
überaus heftige Wahlbewegung mit der Spitze
gegen das Zentrum folgte. Zwar blieb bei der
Wahl vom 25. Jan. 1907 der Bestand des Zen-
trums — es erreichte 104 Mitglieder und einen
Hospitanten — unvermindert. Aber der Auf-
peitschung der konfessionellen Leidenschaften gelang
es, das Zentrum aus seiner ausschlaggebenden
Stellung zu verdrängen, es „auszuschalten“, so
daß es auch bei der Wahl des Präsidiums im
neuen Reichstag gänzlich übergangen werden
konnte. Fürst Bülow hat sich sogar nicht gescheut,
am 17. Febr. 1907 das Zentrum der „antinatio-
nalen Arroganz“ zubeschuldigen. Seitdem war das
Zentrum wieder in die Opposition gedrängt und
ist die Zukunft in Bezug auf die religiösen Interessen
des katholischen Volksteils mehr als je ungewiß.
Zwar gelang dem „Block“ der zentrumsfeind-
lichen bürgerlichen Parteien, welchem die Wahl
eine Mehrheit gebracht hatte, das Zustandebringen
der notwendigen „Reichsfinanzreform“ zur Reg-
lung der schwer zerrütteten Finanzlage des Reiches
im Sommer des Jahres 1909 nicht, so daß diese
Reform mit Hilfe des Zentrums zustande ge-
bracht werden mußte. Aber eine besonnenere und
gerechtere Beurteilung der Haltung des Zentrums
ist auch dadurch bei den Gegnern nicht angebahnt
worden. Im Gegenteil scheint dieser Mißerfolg
einer lediglich auf den Gegensatz zum Zentrum
Kulturkampf ufw.
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aufgebauten „Blockpolitik“ nur dazu benutzt zu
werden, um den konfessionellen Haß noch weiter
gegen die politische Stellung des Zentrums auf-
zuregen. Fürst Bülow, welcher sich dieser Block-
politik zur Verfügung gestellt hatte, nachdem er
bis dahin mit dem Zentrum die staatlichen Auf-
gaben zu lösen bestrebt gewesen war, erhielt nach
dem Scheitern dieser Politik am 14. Juli 1909
seinen Abschied als Reichskanzler und preußischer
Ministerpräsident. Wie sein Nachfolger v. Beth-
mann-Hollweg sich zum katholischen Volksteil und
zum Zentrum stellen wird, steht dahin.
Unter diesen Umständen wird es der unausge-
setzten angestrengtesten Bemühungen des katholi-
schen Volksteiles bedürfen, um den Aufgaben der
Zukunft gerecht zu werden. Die große weltpoli-
tische Lehre des Kulturkampfes, daß jeder Versuch,
den Geist des Katholizismus in Preußen in staats-
kirchlichem Sinne zu beeinflussen, von vornherein
aussichtslos ist, scheint in weiten Kreisen bereits
wieder in Vergessenheit zu geraten. Was man im
Kulturkampf durch den Apparat der staatlichen
Machtmittel vergebens versucht hat, scheint man
jetzt durch das Entfachen einer populären Be-
wegung gegen die katholische Kirche und durch
Verächtlichmachung der Kirche in den Augen ihrer
eignen Bekenner erreichen zu wollen. Alle Zeichen
der Zeit deuten darauf hin, daß auch gegen diese
Bewegung, welche die wildesten Verlästerungen
und Verleumdungen nicht scheut, für den deutschen
Katholizismus eine Sicherung nur in einer starken
politischen Stellung im Anschluß an ernste, hin-
gebungsvolle staatliche Mitarbeit gefunden werden
kann. Sobald die Katholiken die Einigkeit und
Macht ihrer parlamentarischen Vertretungen zer-
fallen lassen wollten, möchte ihnen wohl bald
wieder ein Kulturkampf erwachsen, welcher dann,
auf Grund der gemachten Erfahrungen mit andern
Mitteln geführt, ihnen verderblicher werden könnte
als der so glorreich bestandene Kulturkampf der 70er
Jahre des 19. Jahrhunderts. Für die deutschen
und preußischen Katholiken wird noch lange das
Wort seine tiefe Bedeutung behalten, welches am
offenen Sarge Windthorsts in der St Hedwigs-
kirche in Berlin Kardinal Kopp den anwesenden
Mitgliedern des Zentrums zurief: „Seid einig,
einig, einig!“ Wie heute die Dinge im Deut-
schen Reiche liegen, ist der Bestand des Zentrums
gewiß eine Notwendigkeit für die Zukunft unserer
gesamten staatlichen Entwicklung. Er ist aber noch
weit mehr und wird noch länger bleiben eine Not-
wendigkeit für den Frieden des katholischen Volks-
teiles. Das UÜberwuchern der materiellen
Interessenkämpf darf diese Wahrheit nicht
in den Hintergrund drängen, damit nicht im Ge-
folge solchen Vergessens die Zentrumsfraktion eben-
so zerfällt, wie einst die katholische Fraktion zerfiel
unter dem Überwuchern militaristischer Kämpfe,
als schon der große Kulturkampf vor der Türe stand.
Die ältere Generation des Zentrums, welche
den Kulturkampf bereits tätig und führend mit