Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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ganzen Jahres vernichten, wenn das Korn auf 
dem Halme bleibt, was bei gewerblichen Produkten 
in der Regel nicht die Folge einer Arbeitsein- 
stellung sein wird. Ein allgemeiner Streik würde 
zudem die Volksernährung erschweren. Besondere 
Bestimmungen für diesen Fall erscheinen danach 
zulässig. Anderseits ist zu erwägen, daß die länd- 
lichen Arbeitsbedingungen und die gewerblichen 
sehr ungleichartig sind. Die Löhne sind je nach 
den Verhältnissen der Gegenden und der einzelnen 
Betriebe verschiedenartig und werden dies auch 
bleiben; die Arbeiten zerfallen in Klassen mit ver- 
schiedenen Interessen, sie sind zudem verstreut und 
in größeren gleichartigen Massen mit gleichem 
Interesse an den einzelnen Arbeitsstellen kaum 
vorhanden. Es fehlt sonach an der Konzentration 
größerer Massen, die den gewerkschaftlichen Zu- 
sammenschluß der Industriearbeiter wesentlich er- 
leichtert hat. Es ist deshalb kaum anzunehmen, 
daß eine allgemeine wirtschaftliche Organisation 
der Landarbeiter zustande kommen würde. Dies 
zeigt auch das Beispiel der Gegenden, in denen 
kein Streikverbot herrscht. Von bedenklichen Er- 
scheinungen aus diesem Grunde ist nichts bekannt 
geworden. Das Streikverbot kann zudem um- 
gangen werden. Der trockene Streik, die Verab- 
redung, langsam und schlecht zu arbeiten, kann 
tatsächlich nicht verhindert werden; ebensowenig 
z. B. die Gründung einer Unterstützungskasse für 
den Fall verschuldeter oder unverschuldeter Arbeits- 
losigkeit oder die Verabredung, nach Erfüllung des 
geltenden Arbeitsvertrages einen neuen nur ge- 
meinsam eingehen zu wollen. Unter diesen Um- 
ständen ist die Frage nicht unberechtigt, ob das 
Streikverbot, soweit es noch gilt, überhaupt einen 
praktischen Wert hat; von einer agitatorischen Aus- 
nutzung des Verbotes mit seinen hohen Strafen 
würden infolge der dadurch herbeigeführten Ver- 
bitterung leicht mehr Nachteile für den Arbeit- 
geber zu befürchten sein als von seiner Aufhebung. 
Ferner wird zugegeben werden müssen, daß das 
Verhalten des Arbeitgebers einen sittlich einwand- 
freien Grund zur Arbeitseinstellung bieten kann; 
auch kann man niemand zwingen, nach Ablauf 
des Arbeitsvertrages wiederum Arbeit anzuneh- 
men, wenn man nicht das alte Dienstbarkeits- 
verhältnis wieder einführen will. 
Was den Kontraktbruch anlangt, so wird man 
seine strafrechtliche Verfolgung nicht billigen kön- 
nen. Die besondern Verhältnisse des landwirt- 
schaftlichen Gewerbes bieten keinen Anlaß, die 
Landarbeiter einem Ausnahmegesetz gegenüber den 
andern Arbeitern zu unterstellen. Anderseits ist 
die Feststellung des Schadenersatzes, soweit der 
Vertragsbrüchige hierzu nach dem bürgerlichen 
Rechte angehalten werden kann, häufig weitläufig 
und schwierig, die Ersatzsumme auch nicht immer 
beitreibbar. Es wäre deshalb zu erwägen, ob 
nicht eine Bestimmung ähnlich der des § 124b 
der Gew.O. einzuführen wäre, die dem Arbeit- 
geber auch ohne Nachweis eines Schadens ge- 
Landarbeiter. 
  
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stattet, einen bestimmten Teil des Lohnes einzu- 
behalten oder, wenn dies nicht geschehen ist, ein- 
zuklagen. Wegen der besondern Verhältnisse des 
Gesindes in den hier behandelten Fragen vgl. d. 
Art. Gesinde. 
Deckung des Bedarfs; Landflucht; TLeute- 
not. Ein sehr großer Teil der Wirtschaftsbetriebe 
kann ohne Arbeiter nicht auskommen. Sonst ist 
er genötigt, den Boden mehr oder weniger extensiv 
zu bewirtschaften, die Viehzucht einzuschränken. 
Hierdurch wird aber nicht nur die Rentabilität 
des einzelnen Betriebes ungünstig beeinflußt, son- 
dern die Ernährung des gesamten Volkes mit- 
betroffen. Das Ziel, die Lebensbedürfnisse mög- 
lichst im Inlande zu decken, die Abhängigkeit vom 
Auslande, die besonders in Kriegszeiten zu großen 
Schwierigkeiten führen kann, zu beseitigen, wird 
unerreichbarer, da es eben möglichste Intensität 
des Betriebes voraussetzt. Die Kaufkraft der länd- 
lichen Bevölkerung wird geringer und damit der 
sicherste Markt für die Industrie geschwächt. So 
ist die Deckung des Bedarfs an ländlichen Arbeits- 
kräften eine Frage, die nicht nur den Landwirt, 
sondern die ganze Volkswirtschaft, insbesondere 
auch jeden ernstlich angeht, dem die gesunde Ent- 
wicklung der Industrie am Herzen liegt. 
Der Bedarf ist sehr verschieden. Am stärksten 
ist er naturgemäß im Großbetriebe und in den 
Ländern, in denen dieser vorherrscht, in weiten 
Teilen des östlichen Deutschlands. Am schwächsten, 
vielfach gar nicht vorhanden, dort, wo die Erb- 
gewohnheit der realen Teilung der Grundstücke 
unter die Miterben herrscht. Das sind die Ge- 
genden des Kleinbetriebes und der Zwergwirt- 
schaft. Das Besitztum ist häufig nicht so groß, 
um die Arbeitskraft des Besitzers und seiner Fa- 
milie voll zu beschäftigen. Die Abwanderung in 
die Industriestädte entzieht deshalb dort der Land- 
wirtschaft verhältnismäßig wenig notwendige Ar- 
beitskräfte. In der Mitte stehen die Gegenden 
des Westens und Südens, in denen der Besitz an 
eines der Kinder ungeteilt vererbt wird. Dort 
finden sich häufiger Bauernwirtschaften mittlerer 
Größe, die die Arbeitskraft des Besitzers und seiner 
Familie voll in Anspruch nehmen und ohne fremde 
Hilfe bewirtschaftet werden können. Anders bei 
größeren Bauerngütern. Die Nähe industrieller 
Bezirke befördert hier noch die Abwanderung. 
Im ganzen läßt sich feststellen, daß weite Kreise 
der ländlichen Besitzer der notwendigen Arbeiter 
entbehren, und zwar gerade die, welche vermöge 
ihrer Fachbildung und der Größe ihres Besitzes 
zunächst berufen sind, die Ergebnisse der wissen- 
schaftlichen Forschung in die Praxis des land- 
wirtschaftlichen Betriebes überzuführen und damit 
die Produktivität der Landwirtschaft und die Kauf- 
kraft der ländlichen Bevölkerung zu vermehren. 
Die Leutenot in diesen Kreisen hat verschiedene 
Ursachen. Vor der Agrarreform zu Beginn des 
19. Jahrh. war der Bedarf an Arbeitern in ge- 
nügender Weise gedeckt. Die Agrarreform hat
	        
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