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daran im Westen und Süden weniger geändert.
Anders im Osten. Das preußische Edikt vom
14. Sept. 1811 verlieh zwar den Besitzern der
regulierungsfähigen Bauernstellen, aller zur Zeit
noch nicht eigentümlich besessener Höfe, das un-
eingeschränkte Eigentum. Die Deklaration vom
29. Mai 1816 schränkte aber den Kreis der regu-
lierungsfähigen Stellen erheblich ein. Eine große
Anzahl kleinbäuerlicher, auch spannfähiger Stellen
ist damals fortgefallen, die Grundstücke wurden
zum Gutsland, die früheren Besitzer zu land-
losen Arbeitern. Diese auf dem Lande nicht mehr
festgewurzelten Kreise waren die ersten, die der
Abwanderung zuneigten und damit den Beginn
der Leutenot für den Osten herbeiführten.
Hierzu kam, daß die Entwicklung des land-
wirtschaftlichen Betriebes und der Technik des
Ackerbaues den Bedarf an Arbeitskräften erheblich
steigerte. Die Fruchtwechselwirtschaft ließ die
Brache fallen oder schränkte sie wenigstens stark
ein. Damit erhöhte sich die Summe der Bestel-
lungs-, Ernte= und Druscharbeiten. Der Hack-
fruchtbau vergrößerte wiederum den Bedarf. In
den letzten Jahrzehnten verlangte dann die zu-
nehmende Viehzucht gleichfalls mehr Arbeitskräfte.
Während weiter bei der alten Betriebsweise die
vorhandenen Arbeitskräfte auch im Winter durch
den Flegeldrusch beschäftigt und damit dem Guts-
betriebe erhalten werden konnten, wurde durch die
neuere Entwicklung der Bedarf in den verschie-
denen Jahreszeiten ungleichmäßig. Die Dresch-
maschine leistete die Arbeit, die sonst auf die
Wintermonate verteilt wurde, in wenigen Tagen.
Die zahlreichen andern Maschinen leisteten zur
Bestellungs= und Erntezeit ein Vielfaches der bis-
her üblichen Menschenarbeit. Daraus ergab sich
das Streben, den ständigen Arbeiterstamm zu ver-
kleinern. Der Arbeiter anderseits, der nun nicht
eine das ganze Jahr dauernde Beschäftigung fand,
neigte zur Abwanderung nach Stätten, die ihm
für das ganze Jahr den Erwerb sicherten. Der
Mangel an Arbeitern führte dann wiederum zur
Erweiterung der Maschinenarbeit. Auch der stärkere
Bedarf für den Hackfruchtbau tritt nur zu be-
stimmten Jahreszeiten ein.
In diese Entwicklung, die den innern Zusam-
menhang des Arbeiters mit dem Lande lockerte,
fiel nun der industrielle Ausschwung. An die
Stelle der Auswanderung trat, begünstigt durch
die neuen Verkehrsmittel und die Freizügigkeit,
immer mehr die Binnenwanderung in die In-
dustriebezirke. Dort gab es Arbeit für das ganze
Jahr. Der höhere Geldlohn lockte, da man die
Naturalleistungen, die im landwirtschaftlichen Be-
triebe an Zahlungs Statt gegeben wurden, nicht
immer richtig einschätzte. Auch war man nach Ab-
leistung der Arbeitszeit unabhängig und selbstän-
dig. Das in den unteren Kreisen der Bevölkerung
herrschende Streben nach sozialem Vorwärtskom-
men für sich oder wenigstens für die Kinder ist in
den Städten leichter zu befriedigen. Auf dem
Landarbeiter.
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Lande, besonders dort, wo der Großbetrieb und
die fideikommissarische Bindung des Grundbesitzes
herrscht, ist der Erwerb von Grundeigentum kaum
möglich. In den industriereichen Städten lockt
für den fleißigen, strebsamen Mann das Empor-
steigen zu besser bezahlten, verantwortungsvolleren
Stellen in der industriellen Arbeiterschaft, sind für
die Kinder im Handwerk unter den kaufmännischen
und technischen Angestellten oder im Bureaudienst
bisher ungeahnte Möglichkeiten zum Erwerb und
sozialen Fortschritt. In den Städten läßt sich
ferner das durch die Volksschule geweckte starke
Bildungsbedürfnis besser befriedigen. Die viel-
fachen allgemeinen und technischen Bildungs-
möglichkeiten begünstigen weiter das Aufsteigen
der Nachkommen über den väterlichen Stand. So
gehen dem Lande gerade die Besten verloren, die
Leute mit Begabung, starkem Wollen und Ar-
beitslust.
Bei einer Vermehrung der Bevölkerung in ganz
Preußen um 55 % von 1867 bis 1905 beträgt
diese für Ostpreußen nur 12%, für Pommern
17% , für Westpreußen und Posen, trotz der
Tätigkeit der Ansiedlungskommission, nur 28 bzw.
29% . Der Zuwachs kommt im wesentlichen auf
die großen Städte dieser Provinzen, so daß man
von einer Entvölkerung des platten Landes durch
den Wegzug der Arbeiter mit Fug sprechen kann.
Einen Akt der Selbsthilfe gegen diese Leutenot
bildet die Anwerbung der Sachsengänger.
Der Rübenbau, der schon in den 1850er und 1860er
Jahren in der Provinz Sachsen in hoher Blüte
stand, bedarf starker Handarbeit zu bestimmten
Zeiten. Die hierzu nötigen Arbeitskräfte holte
man aus den östlichen Provinzen. Nach Schluß
der Rübensaison kehrten die Wanderarbeiter (Sai-
sonarbeiter, Sachsengänger) in die Heimat zurück.
Mit der zunehmenden Leutenot wurden sie immer
mehr auch zu andern Arbeiten verwendet. Der
Rekrutierungsbezirk dehnte sich aus und liegt jetzt
zum größten Teile im Auslande. Die Leute wur-
den zunächst nur durch Agenten beschafft, später
nahmen sich die Landwirtschaftskammern der An-
gelegenheit an und gründeten Arbeitervermittlungs-
stellen, schließlich wurde als Mittelpunkt im Jahre
1905 die deutsche Feldarbeiterzentral-
stelle in Berlin gegründet. Die Vermittlung
von Arbeitern erfolgt jetzt sowohl durch diese wie
durch die Landwirtschaftskammern und Privat-
agenten, an den Grenzen auch wohl noch direkt
durch Arbeitgeber.
Zahlreiche Klagen über Kontraktbrüche der aus-
ländischen Arbeiter und Gründe der Fremden-
polizei führten sodann dazu, daß durch Erlaß des
preußischen Ministers des Innern vom 21. Dez.
1907 für fremde Arbeiter, zunächst an den Grenzen
der Ostprovinzen, ein Legitimationszwang ein-
geführt wurde. Gründe der derzeitigen preußischen
Polenpolitik führten dann noch zu Bestimmungen,
welche Beschäftigungszeit und Beschäftigungsart
der ausländisch-polnischen Arbeiter einschränken.
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