Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Interesse der Arbeitgeber erfolgen würde, ohne die 
Interessen der Arbeiter zu berücksichtigen. Viel- 
mehr werden zunächst die wirtschaftlichen Verhält- 
nisse der Arbeiter so zu regeln sein, daß sie diese 
befriedigen und nicht zur Abwanderung verleiten. 
Der Naturallohn wäre den Bedürfnissen mehr an- 
zupassen, der Anteil am Gewinn ließe sich aus- 
bauen, das vielfach lästige Hofgängerwesen be- 
seitigen, der Barlohn wäre unter Berücksichtigung 
der Bedürfnisse des Arbeiters zu bemessen. In 
manchen Gegenden des Ostens, in denen lang- 
dauernder Frost kaum eine andere Arbeit ge- 
stattet, könnte die Rückkehr zum Flegeldrusch dem 
Arbeiter dauernde Erwerbsgelegenheit für das 
ganze Jahr verschaffen. 
Die sozialpolitische Fürsorge in obigem Sinne 
würde zugleich den vom Landarbeiter in ungün- 
stigem Sinne gezogenen Vergleich mit dem In- 
dustriearbeiter beseitigen und ihm das Gefühl 
größerer Selbständigkeit geben. Hierzu kommen 
die in den letzten Jahren immer mehr hervortre- 
tenden Bestrebungen, den durch die Agrarreform 
und die Betriebsentwicklung gelockerten Zusammen- 
hang des Arbeiters mit dem Lande durch ihre 
Seßhaftmachung wieder zu festigen. Neben 
der Selbsthilfe der Arbeitgeber und der Hilfe der 
Kommunalvberbände kann der Staat hier erheblich 
mitwirken durch Gewährung von Kredit, Mit- 
hilfe der staatlichen Organe, Bereitstellung von 
Grund und Boden aus den Domänen. Es ist 
nach dieser Richtung schon manches geschehen 
(ogl. d. Art. Kolonisation, innere). In Literatur 
und Praxis werden hierbei zwei Richtungen er- 
örtert und empfohlen: die Ansetzung der Arbeiter 
auf Pachtländereien mit langfristigen Verträgen 
und die Ansetzung unter Gewährung von Eigen- 
tum, etwa in der Form von Rentengütern. Die 
Ansetzung reiner Arbeiterkolonien hat sich gegen 
die Ansiedlung in etwa neu zu gründenden 
Bauerndörfern als weniger günstig erwiesen. In 
diesen ist der Zukauf von Grundstücken, die Aus- 
übung eines Handwerks als Nebengewerbe und 
damit größere persönliche Unabhängigkeit und 
soziales Aufsteigen eher möglich. Über die bis- 
herigen Versuche und Erfahrungen unterrichtet 
eingehend das unten angeführte Werk von Gerlach. 
Von Wichtigkeit sind schließlich die Bestrebungen 
der ländlichen Wohlfahrtspflege, die sich auf die 
Pflege der allgemeinen und der Berufsbildung 
durch Fortbildungsschulen, Rektoratschulen, ge- 
meinnützige Bibliotheken, hygienische und Kran- 
kenpflege, Sorge für echte Freude und Gesellig- 
keit, Erweckung und Erhaltung des Heimats- 
gefühles richten. Sie sind geeignet, manche von 
dem Arbeiter als Vorzüge empfundene Seiten 
des städtischen Lebens auch auf dem Lande zu 
bieten und damit die Neigung zur Abwanderung 
zu schwächen. Auch Arbeitervereine können in 
dieser Richtung Ersprießliches wirken. 
Literatur. Knapp, Die Bauernbefreiung u. der 
Ursprung der L. in den älteren Teilen Preußens 
Landeshoheit — Landeskulturgesetzgebung. 
  
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(1887); v. Lengerke, Ländl. Arbeiterfrage (1849); 
Verhältnisse der L in Deutschland, Erhebungen 
des Vereins für Sozialpolitik (1892); Verhand- 
lungen desselben Vereins (1893); Weber, L. in 
den evang. Gebieten Norddeutschlands (1899); 
v. d. Goltz, Ländl. Arbeiterfrage u. ihre Lösung 
(1874); derf., Lage der ländl. Arbeiter (1875); 
ders., Ländl. Arbeiterklassen u. preußischer Staat 
(1893); ders., L.frage im nordöstl. Deutschland 
(1896); derf. in Gesch. der deutschen Landwirtschaft 
(Stuttgart u. Berlin 1902, 1903), im Handwörierb. 
der Staatswissenschaften u. im Wörterb. der Volks- 
wirtschaft; v. Kahlden, Ländl Arbeiter in Meitzen, 
Boden u. landwirtschaftl. Verhältnisse des preuß. 
Staates (1908); Kärger, Arbeiterpacht (1893); 
Stumpfe, Seßhaftmachung der L. (1906); Gerlach, 
Ansiedlung von L.n in Norddeutschland, Erhebungen 
der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft (1909); 
Schlegelberger, L. recht (1907); Hitze, Abriß der 
Agrarfrage (1908); Herold, Ländl. Arbeiterfrage, 
in Zeitschrift für Agrarpolitik 1889; v. Trzeinfki, 
Russische polnische u. galizische Wanderarbeiter 
im Großhrzgt. Posen (1906); Berichte der deut- 
schen Feldarbeiterzentrale 1907/08; Ehrenberg u. 
Gehrke, Kontraktbruch der L. als Massenerscheinung 
(1907); Heim, Ländl. Dienstbotenorganisationen 
(1907). (Klocke.] 
Landeshoheit s. Souveränität. 
Landeskirchen s. Staatskirchentum. 
Landeskulturgesetzgebung. Prin- 
zipiell könnte in der Frage der Landeskultur die 
freie Tätigkeit des einzelnen als erstrebenswertes 
Ziel der staatlichen Gesetzgebung erscheinen, so 
daß dieser nur die Aufgabe zufallen würde, die 
Hindernisse aus dem Wege zu räumen, welche die 
freie Entfaltung des Individuums bei der Kultur- 
arbeit hemmen. Man könnte auch hier den Satz 
aufstellen wollen, daß das eigne Interesse des ein- 
zelnen an möglichst vorteilhafter Ausnutzung der 
ihm zur Verfügung stehenden Mittel stark genug 
sei, um ihn anzueifern, durch rege Kulturtätigkeit 
zur Hebung der gesamten Landwirtschaft nach 
Kräften beizutragen, und daß im freien Wett- 
bewerbe der Konkurrenz auch hier wie allenthalben 
das Wohl der volkswirtschaftlichen Entwicklung 
gelegen sei. Doch die Zeit, welcher die wirtschaft- 
liche Isolierung des einzelnen als Heilmittel für 
alle wirtschaftlichen Leiden erschien, ist glücklicher- 
weise vorbei; in unserer Frage zumal ist das 
Prinzip des Individualismus schon längst einer 
gesunden Sozialpolitik gewichen. Denn rationeller 
Betrieb der Landwirtschaft ist nicht allein maß- 
gebend für die ökonomische Lage der Landwirte, 
sondern auch gleichbedeutend mit der Sicherung 
der Ernährung des Volkes, dieser unentbehrlichsten 
Grundlage seiner Existenz. Mit zunehmendem 
Wachstum der Bevölkerung tritt die Nahrungs- 
frage in den Vordergrund des allgemeinen Inter- 
esses. Die Zunahme der Einfuhr der notwen- 
digsten Lebensmittel aus dem Auslande, das 
sicherste Zeichen, daß die Produktion der einheimi- 
schen Landwirtschaft zur entsprechenden Ernährung 
der Bevölkerung nicht ausreichend ist, läßt sodann
	        
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