Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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einer Gutswirtschaft verbunden und dauerte jeder 
Lehrkursus zwei Jahre. 
Im Jahre 1858 errichtete Michelsen in Hildes- 
heim eine rein theoretische Ackerbauschule, auch 
„landwirtschaftliche Mittelschule“ genannt. Die 
Organisation dieser Anstalten, deren nach dem 
Vorgange von Hildesheim eine ganze Reihe ge- 
gründet wurden, fand in Preußen durch Mini- 
sterialerlasse vom Jahre 1875 und 1892 mit der 
amtlichen Bezeichnung „Landwirtschaftsschulen“ 
statt. Fast gleichzeitig mit diesen Mittelanstalten 
entwickelten sich die nur auf die Wintermonate ihre 
Lehrkurse beschränkenden landwirtschaftlichen Win- 
terschulen, welche ebenfalls sich nur auf den theo- 
retischen Unterricht beschränken und diesen dem 
Fassungsvermögen der Volksschulvorbildung an- 
passen. Theoretisch -praktische Ackerbauschulen, 
welche mit Gutswirtschaften und Internaten ver- 
bunden sind, gibt es in der Gegenwart nur mehr sehr 
wenige. Von den den Mittelschulen zuzuzählenden 
„Landwirtschaftsschulen“ bestehen in Deutschland 
zurzeit einige zwanzig, und „Winterschulen“ als 
niedere Lehranstalten werden gegen 250 in Deutsch- 
land ihre Tätigkeit entfalten. 
2. Ziele und Aufgaben. Die höheren 
landwirtschaftlichen Lehranstalten erstreben eine 
allgemeine wissenschaftliche und eine besondere 
fachwissenschaftliche Ausbildung für Landwirte, 
welche später entweder als Unternehmer (Eigen- 
tümer oder Pächter) ein Gut bewirtschaften oder 
als Verwalter und Inspektoren einen Betrieb leiten 
oder als Lehrer an landwirtschaftlichen Lehran- 
stalten tätig sein wollen. In Preußen ist die Mög- 
lichkeit der Ablegung eines zweifachen Examens, 
der sog. Diplomprüfung und des Staatsexamens, 
gegeben. Für Ablegung des ersteren wird gefordert: 
a) Bestehen eines Examens in einer Reihe von 
vorgeschriebenen Fächern nach zweijährigem 
akademischen Studium, zu welchem die Zulassung 
nur auf Grund des Einjährig-Freiwilligen-Zeug- 
nisses erfolgt; b) zwei= bis vierjährige Praxis in 
einem landwirtschaftlichen Betriebe; c) einjähriger 
Besuch eines pädagogischen Seminars. Für das 
landwirtschaftliche Staatsexamen wird gefordert: 
a) Das Reifezeugnis eines humanistischen oder 
Realgymnasiums oder einer Oberrealschule; 
b) Ablegung einer schriftlichen und mündlichen 
Prüfung in einer Reihe von naturwissenschaftlichen, 
landwirtschaftlichen usw. Fächern auf Grund eines 
dreijährigen Studiums an einer landwirt- 
schaftlichen Hochschule; c) zwei Jahre landwirt- 
schaftliche Praxis vor oder nach dem Studium; 
d) ein Jahr Besuch eines pädagogischen Seminars; 
e) ein Probejahr. Aus denjenigen Landwirten, 
welche die Diplomprüfung bestanden haben, wer- 
den die Lehrer an den niederen Ackerbau= und 
Winterschulen entnommen, und für die Lehrer an 
den mittleren Landwirtschaftsschulen wird die Ab- 
legung des landwirtschaftlichen Staatsexamens 
gefordert. Für die Beamten der Landwirtschafts- 
kammern bestehen bezüglich der für ihre Anstellung 
Landwirtschaftliches Bildungswesen. 
  
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nötigen Vorbildung dieselben Bestimmungen mit 
der Abänderung, daß an Stelle des Seminarjahres 
ein Probejahr an der Kammer tritt. 
Der Unterricht an den landwirtschaftlichen 1 
schulen umfaßt grundlegende Wissen- 
schaften, als da sind: Physik, Chemie, Pflanzen- 
physiologie, Tierphysiologie, Volkswirtschaftslehre, 
und Fachwissenschaften, wie: Ackerbau mit 
Bodenkunde, Düngerlehre, Agrikulturchemie und 
Agrikulturphysik, besondere Anbaulehre der ein- 
zelnen Pflanzenarten, allgemeine Tierzucht und 
Fütterungslehre sowie Züchtungslehre der einzelnen 
Haustierarten mit Tierheilkunde, Betriebslehre, 
Taxationslehre, Buchführung. Außerdem werden 
gelehrt Maschinenkunde, Baukunde, Landwirt- 
schaftsrecht, Landeskulturgesetzgebung, Genossen- 
schaftswesen, Handelskunde, Wohlfahrtpflege, fer- 
ner Technologie in ihren verschiedenen Zweigen, 
wie: Brennerei, Brauerei, Müllerei, Molkerei- 
wesen, sowie Meliorations= und Kulturtechnik mit 
ihren Hilfswissenschaften. Die letzteren Fächer 
kommen besonders für die Ausbildung der Feld- 
messer, Katasterbeamte und Okonomiekommissare, 
welche bei den Generalkommissionen Anstellung 
finden wollen, in Betracht. Mit den landwirt- 
schaftlichen Hochschulen sind überall verbunden 
Versuchsfelder zur Ausführung von Düngungs- 
und Anbauversuchen, botanische Gärten zur Kul- 
tivierung aller im Landwirtschaftsbetrieb vorkom- 
menden Pflanzen, Laboratorien zu Versuchen und 
Untersuchungen auf dem Gebiete der Agrikultur= 
chemie, der Tierphysiologie, der Maschinenkunde, 
Museen zur Veranschaulichung von Demonstra- 
tionsgegenständen. 
Dielandwirtschaftlichen Mittelschulen kann man 
als Realschulen bezeichnen, welche den landwirt- 
schaftlichen Bedürfnissen angepaßt sind. Sie haben 
die Berechtigung zur Erteilung des Einjährig- 
Freiwilligen-Zeugnisses und werden deshalb von 
den Söhnen der wohlhabenden bäuerlichen Be- 
sitzer zahlreich besucht. Diese Anstalten vermitteln 
ein beträchtliches Maß von allgemeiner und fach- 
licher Bildung im ländlichen Mittelstande. Große 
Bedeutung für die Entwicklung der landwirtschaft- 
lichen Technik haben auch die zahlreich im Laufe 
der Zeit entstandenen, einzelnen Zweigen gewid- 
meten Spezial-Unterrichtsanstalten, wie Molkerei-, 
Obstbau-, Weinbau-, Gartenbau-, Wiesenbau-, 
Brauerei= und andere Schulen. Für die ganze 
ländliche Bevölkerung hat einen besondern Bil- 
dungswert, daß die Direktoren der Winterschulen 
zugleich als Wanderlehrer des der betreffenden 
Winterschule nahegelegenen Bezirkes fungieren und 
in den Sommermonaten Spezialkurse an den einzel- 
nen Orten halten. Die Winterschulen haben über- 
haupt für die große Masse der Landwirtschaft trei- 
benden Bevölkerung die größte Bedeutung, indem 
an diesen Anstalten die Grundlagen und Grund- 
züge der gesamten Landwirtschaftslehre in einer 
volkstümlichen Form zur Darstellung gelangen. 
Das ganze landwirtschaftliche Versammlungswesen
	        
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