Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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trägt auch viel zur Förderung der Einsicht der 
Landwirte bei dadurch, daß man bei der Auswahl 
der dort zu behandelnden Themata auf das Bil- 
dungsbedürfnis der betreffenden Gegenden weit- 
gehendste Rücksicht nimmt. Stetig und erfreulich 
fortschreitend, finden auch die ländlichen Fort- 
bildungsschulen ausgedehnte Pflege. Wenn 
auch die Ansicht sich immer mehr geltend macht, 
daß Fortbildungsschulen überhaupt den Schwer- 
punkt ihrer Aufgabe nicht in die Fachbildung, 
sondern in die Gesinnungspflege verlegen sollen, 
so kommt naturgemäß doch die durch gute Fort- 
bildungsschulen geförderte bessere Allgemeinbildung 
auch dem Landwirtschaftsbetrieb zugute, besonders 
dann, wenn die Fortbildungsschule ihre besondere 
Aufmerksamkeit der Berufsethik zuwendet. Für 
das weibliche Geschlecht haben die Haushal- 
tungsschulen ähnliche Aufgaben zu erfüllen 
wie die Winterschulen und Fortbildungsschulen 
für die männliche Jugend. Die Rolle, welche die 
Frau in der Landwirtschaft für die Rentabilität 
des Betriebes spielt, macht es verständlich, daß 
man auch die der Vorbildung der Frauen ge- 
widmeten Lehranstalten in ihrer zweckentsprechen- 
den Ausgestaltung stetig zu fördern sucht. Große 
Beachtung verdienen zu dem Ende auch die Wan- 
derhaushaltungsschulen. Nur ist bei den letzteren 
zu beachten, daß die Kurse nicht zu kurz sind; ist 
letzteres der Fall, verlieren sie ihren erziehlichen 
Einfluß und damit ihren wesentlichen Wert. 
3. Weitere Ausgestaltung. Infolge des 
Anwachsens der landwirtschaftlichen Nebenbetriebe 
und der Verbreitung des landwirtschaftlichen Ge- 
nossenschaftswesens macht sich für den modernen 
Landwirt das Bedürfnis nach kaufmännischen 
Kenntnissen und kaufmännischer Gewandtheitimmer 
mehr geltend. Da ist nun ein Vorschlag sehr be- 
achtenswert, den Professor Dr Riesenfeld gemacht 
hat. Unter Zugrundelegung der Einteilung der 
gesamten Landwirtschaftslehre in Technik des 
Landbaues oder landwirtschaftliche Produktions- 
lehre und Okonomilk des Landbaues oder land- 
wirtschaftliche Wirtschaftslehre denkt sich Dr Riesen- 
feld eine „Gewerbelehre des Landbaues“ 
neben der landwirtschaftlichen Betriebslehre, der 
landwirtschaftlichen Taxationslehre und der land- 
wirtschaftlichen Rechnungslehre als einen eignen, 
selbständigen und gleichberechtigten 
Zweig der Okonomik des Landbaues 
gestellt. Diese landwirtschaftliche Gewerbelehre als 
Wissensgebiet betrachtet soll nach Dr Riesenfelds 
Idee die Summe aller derjenigen Kenntnisse ent- 
halten, über welche der moderne Landwirt als 
Unternehmer eines einzelwirtschaftlichen Betriebes 
bei seiner Beteiligung am geschäftlichen Verkehrs- 
leben verfügen muß, um den wirtschaftlichen Er- 
folg seiner gewerblichen Tätigkeit, welcher in der 
Erzielung von Überschüssen und Reingewinn be- 
stehen soll, zu erreichen. Die „Gewerbelehre" 
würde demnach verschiedenartige Wissensgebiete 
und Lehrfächer umfassen, und zwar einen handels- 
  
Landwirtschaftliches Bildungswesen. 
  
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wissenschaftlichen Teil, nämlich die „land= 
wirtschaftliche Handelskunde“ als die Lehre 
von 1) den handelsgewerblichen Nebenbetrieben, 
2) den Handelsgebräuchen, 3) den Handels- 
geschäften des Landwirtes beim Einkauf der land- 
wirtschaftlichen Bedarssgegenstände und beim Ver- 
kauf der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, 4) der 
Nutzbarmachung der öffentlichen Anstalten und 
Einrichtungen des Handelsverkehres für die Zwecke 
der Förderung des landwirtschaftlichen Güter- 
austausches, nämlich Verkehrswesen (Post. Eisen- 
bahn, Schiffahrt usw.), Zahlungs= und Kredit- 
wesen, Bank= und Börsenwesen, 5) den Handels- 
vertragsbeziehungen und Zöllen auf landwirt- 
schaftliche Betriebsmittel und Erzeugnisse, sowie 
einen gewerbetechnischen Teil, nämlich land- 
wirtschaftliche Gewerbekunde im engeren Sinne 
als die Lehre von 1) dem landwirtschaftlichen Ge- 
nossenschaftswesen, 2) dem landwirtschaftlichen 
Kreditwesen, 3) dem landwirtschaftlichen Versiche- 
rungswesen, 4) dem landwirtschaftlichen Besteue- 
rungswesen, 5) der landwirtschaftlichen Gewerbe- 
verwaltung und Polizei, 6) der landwirtschaftlichen 
Gewerbeförderung, insbesondere bezüglich länd- 
licher Arbeiterverhältnisse, 7) der ländlichen Wohl- 
fahrtpflege und dem landwirtschaftlichen Vereins- 
und Bildungswesen. 1 
In der „Deutschen landwirtschaftlichen Presse“ 
(Jahrg. 31, Nr 57, S. 499) wurde dieses Pro- 
gramm vom Chefredakteur Dr Müller in seiner 
privat= und volkswirtschaftlichen Bedeutung sehr 
eingehend gewürdigt. Sehr treffend wurde dabei 
ausgeführt, daß, seitdem der große Landwirtschafts- 
reformator Albrecht Thaer in seinen „Grundsätzen 
der rationellen Landwirtschaft" (§32) die Unentbehr-= 
lichkeit merkantiler Kenntnisse für den praktischen 
Landwirt betonte, die damalige verhältnismäßige 
Einfachheit und Übersichtlichkeit der landwirt- 
schaftlichen Gütererzeugung, des landwirtschaftlichen 
Güterabsatzes und der Marktpreisbildung dermaßen 
unter dem Einfluß des modernen Weltverkehrs 
und seiner Mittel zu einem verwickelten, von 
allerlei spekulativen Faktoren des Weltmarktes und 
des internationalen Zwischenhandels beeinflußten 
Vorgange sich umgestaltet hat, daß Thaers Forde- 
rung merkantiler Kenntnisse für den praktischen 
Landwirt heute ganz beträchtlich mehr denn damals 
an Berechtigung gewonnen hat und für den auch 
nur halbwegs größeren Landwirt als bedingungs- 
los gelten muß. Besonders wird in der „Deutschen 
landwirtschaftlichen Presse“ die fortschreitende Kom- 
merzialisierung und Industrialisie- 
rung des landwirtschaftlichen Gewerbes als die 
hervorstechendsten Züge in dem Gesamtbilde be- 
zeichnet, das die Landwirtschaft auf der gegenwär- 
tigen Stufe ihrer Entwicklung darbietet. Und wenn 
schon diese Erkenntnis eine gesteigerte Forderung 
zur Ausbildung der Landwirte in der Gewerbe- 
lehre enthalte, so sei aber besonders auch noch der 
idealen Mission dieses Faches zu gedenken: durch 
den Einblick, welchen mit seiner Hilfe der Landwirt 
in das länderverbindende, weltumspannende Ge- 
triebe des Handels gewinnt, sollen sich auf ihn all- 
mählich eine Reihe von mehr persönlichen Eigen- 
schaften übertragen, welche jetzt eigentümliche
	        
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